Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. So viel steht fest, oder? Zum Auftakt unserer Serie Das Thema klären wir, wie tief Die soziale Spaltung im Land wirklich ist, wen sie am härtesten trifft und ob sie tatsächlich schlimmer wird. Eine ehrliche Analyse.
Ich diskutiere dauernd mit anderen darüber, wie wir die soziale Spaltung überwinden können. Das bringt die Arbeit für Mein Grundeinkommen so mit sich. In letzter Zeit nehmen diese Gespräche oft eine unerwartete Wendung: Nicht mehr nur die Wege aus der Ungleichheit sind umstritten – sondern auch das Vorhandensein der Ungleichheit. Moment, was?!
Wie kann es sein, dass Menschen, die im selben Land leben wie ich, den klaffenden Spalt zwischen Armut und Reichtum nicht sehen, der mir jeden Tag bei der Arbeit und im Alltag begegnet? Ist es nur ihre Taktik, die Debatte über Lösungen für die soziale Spaltung abzuwürgen, indem man einfach das Problem leugnet? Oder haben sie am Ende recht und mein soziales Weltbild ist schlicht schief?
Zeit für eine Bestandsaufnahme: Wie gespalten ist Deutschland wirklich? Geht die berühmte soziale Schere nun weiter auseinander oder nicht?
Arm trotz Arbeit
Mindestens 15,9 Prozent aller Menschen waren im vergangenen Jahr von Armut betroffen. Das ist die höchste Armutsquote seit der Wiedervereinigung. Tatsächlich sind es aber noch viel mehr: Hunderttausende Wohnungslose, Menschen in Heimen oder Geflüchtete in Sammelunterkünften fallen aus dieser Statistik heraus.
Wer sind die 13 Millionen Menschen, die offiziell als arm gelten, weil sie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte zum Leben zur Verfügung haben? Um mit einem Klischee aufzuräumen, das mir in den erwähnten Diskussionen immer wieder begegnet: Es sind nicht "nur" Arbeitslose und Menschen ohne deutschen Pass, sondern vor allem auch Alleinerziehende oder Familien mit vielen Kindern, gering qualifizierte Menschen und Rentner*innen.
Ein Drittel ist arm, obwohl sie arbeiten gehen. Ein weiteres Drittel bezieht eine Rente oder Pension, die nicht für ein Leben in Würde reicht. Nur knapp acht Prozent sind arbeitslos. Mich haben diese Zahlen überrascht.
Neue Daten zum obersten Prozent
Wie es auf der anderen Seite der sozialen Spaltung, bei den Reichen, aussieht, ist gar nicht so leicht zu ermitteln. Reichtum lässt sich besser am Vermögen ablesen als am Einkommen, aber Vermögen ist schwieriger zu erfassen. Erst letzten Sommer gelang es Forscher*innen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Daten zu erheben, die nicht auf Schätzungen basieren.
Sag mir, was du verdienst – und ich sage dir, wo du lebst
Die soziale Spaltung kann man nicht nur an Zahlen ablesen, sondern auch auf der Landkarte: Bei den Arbeitseinkommen gehen zwei Risse mitten durch Deutschland, einer zwischen Nord und Süd – und ein zweiter, tieferer, nach wie vor zwischen Ost und West.
Wer in Baden-Württemberg arbeitet, hat statistisch betrachtet ein mittleres Brutto-Jahreseinkommen von 46.620 Euro, in Mecklenburg-Vorpommern verdient man im Mittel nur 33.690 Euro. Der Gehaltsvergleich des Webportals Gehalt.de listet alle fünf ostdeutschen Bundesländer auf den hintersten Rängen.
Natürlich erwartet niemand, dass es in einem Flächenland wie Deutschland überhaupt kein Gehaltsgefälle gibt. Schließlich unterscheiden sich auch Lebenshaltungskosten und Konzentration der Berufsfelder von Region zu Region. Aber solche Faktoren erklären nicht allein die Differenz von 13.000 Euro zwischen dem Nordosten und Südwesten des Landes – immerhin mehr als ein Jahres-Grundeinkommen!
Jahrelang ging die Einkommensarmut im Osten schrittweise zurück, eine Angleichung der Lebensverhältnisse schien Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung doch noch möglich. Im letzten Jahr wuchs die Einkommensarmut hier jedoch erstmals wieder.
In unserer neuen Serie Das Themabeleuchten wir Die soziale Spaltung. Wie sehr bestimmen Armut oder Reichtum unser Leben – und können wir diese Spaltung irgendwie überwinden?
Auf welcher Seite der sozialen Spaltung man gerade steht, ist die eine Sache. Ob man dort aus eigener Anstrengung oder mit fremder Unterstützung wieder wegkommen kann, ist eine andere. Wie gut ist unsere Gesellschaft darin, den Aufstieg aus der Armut zu fördern?
Die Antwort ernüchtert: Die soziale Mobilität nach oben nimmt kontinuierlich ab, stellen Soziolog*innen in einer aktuellen Studie für das Arbeitsministerium fest. In den Achtzigerjahren blieben 37 Prozent der Menschen in Armut auch nach fünf Jahren arm, alle anderen schafften den Aufstieg in die nächst höhere soziale Lage. Im letzten Jahrzehnt saßen 60 Prozent auch nach fünf Jahren noch in Armut fest.
Die Daten seien "stellenweise alarmierend", sagt der Leiter der Forschungsgruppe, Olaf Groh-Samberg, der Wochenzeitung Die Zeit, die Armut verfestige sich in Teilen der Bevölkerung.
Wohlstand hilft auf vielen Ebenen, leichter durch die Pandemie zu kommen. Wer Rücklagen hat, stürzt nicht so schnell ab. Aber “Menschen, die zuvor schon wenig hatten, sind besonders oft und besonders hart von wirtschaftlichen Verlusten betroffen“, sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung.
Die staatlichen Hilfsmaßnahmen wirken dem offenbar trotz ihres Umfangs nicht ausreichend entgegen, weil sie nicht genug auf die sozial Benachteiligten abzielen. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge nennt das eine "verteilungspolitische Schieflage". Ohnehin habe "die Pandemie, anders übrigens als die mittelalterliche Pest, einen sozial-polarisierenden Effekt und nicht einen egalisierenden."
Eine neue Debatte
Deutschland habe eines der teuersten und damit besten Sozialsysteme der Welt, halten mir die Menschen entgegen, mit denen ich über die Existenz der sozialen Spaltung diskutieren muss. Stimmt.
Aber diese kurze Analyse macht deutlich, dass es uns trotz der hohen Sozialinvestitionen nicht gelingt, diese Spaltung zu verringern oder ausreichende Aufstiegschancen zu bieten – oder auch nur die schlimmsten sozialen Folgen der Coronakrise abzufedern.
Deswegen sage ich meinen Gesprächspartner*innen in diesen Momenten jetzt immer: "Stop mal. Themenwechsel!" Gerade jetzt möchte ich nicht mehr darüber sprechen, ob es die soziale Spaltung gibt – sondern wie sie sich auf jede*n Einzelne*n von uns auswirkt und wie wir sie perspektivisch überwinden können.
Wir fangen heute mal damit an.
Was denkst du? Stimmst du unserer Analyse zu? Haben wir wichtige Fakten übersehen? In unserer Umfrage zu Das Thema: Die soziale Spaltung zählt deine Meinung. Oder schreib sie uns hier in die Kommentare. Danke, dass du mitmachst!
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