Am Sonntag ist Europawahl. Kann man diesmal eigentlich das Grundeinkommen wählen? Wir haben uns auf der Suche nach der Antwort durch alle deutschen Wahlprogramme gearbeitet.
Als wir vor fünf Jahren das aktuelle Europaparlament gewählt haben, gab es Mein Grundeinkommen noch gar nicht. Seitdem ist einiges passiert: Wir haben gemeinsam mit euch mehr als 300 Grundeinkommen bedingungslos an Menschen in Deutschland und Europa verlost. Das hat auch die politische Debatte verändert.
In ganz Europa erleben wir momentan den vielleicht rasantesten Aufstieg einer politischen Idee überhaupt: In der Schweiz gab es 2016 eine Volksabstimmung zum Grundeinkommen. Finnland beendete vor Kurzem ein zweijähriges Grundeinkommens-Experiment. In Frankreich schmieden 13 Départements aktuell konkrete Pläne für Versuchsprojekte zum Grundeinkommen. In Thüringen hat die Partei Die Linke ebenfalls ein Modellprojekt zum Grundeinkommen ins Wahlprogramm aufgenommen.
Aber finden sich diese Debatten und Pläne auch in den europäischen Wahlprogrammen wieder? Höchste Zeit für einen Parteiencheck zur Europawahl am Sonntag…
Klare Positionen sehen anders aus
Zuerst die ernüchternde Nachricht: Von den deutschen Parteien, die momentan im Europaparlament sitzen, beziehen nur zwei überhaupt eine Position zum Grundeinkommen: die ÖDP und Die Linke.
Die ÖDP fordert ein europaweites, ausreichendes Grundeinkommen für Personen, die über kein eigenes Einkommen verfügen können. Dazu zählt die Partei Kinder, Erziehende, Pflegende, Rentner*innen und Erwerbsunfähige. Die Höhe eines ausreichenden Grundeinkommens soll sich den volkswirtschaftlichen Gegebenheiten in den einzelnen Nationalstaaten anpassen. Konkrete Rahmenbedingungen sollen Zu- und Abwanderungsströmungen verhindern. Allerdings: Ein Bedingungsloses Grundeinkommen wird von der ÖDP ausdrücklich abgelehnt.
Die Linke traut sich noch nicht wirklich und stellt keine direkte Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen auf. Aber: Immerhin Teile der Linken vertreten das Konzept, die Partei diskutiert es kontrovers und unterstützt Diskussionsinitiativen und Prüfaufträge zum Grundeinkommen auf europäischer Ebene.
Sind Stimmen für kleine Parteien verschenkt?
Das Europaparlament setzt sich nicht nur anders zusammen als der deutsche Bundestag – es gibt am Sonntag auch keine Sperrklausel, keine Fünf-Prozent-Hürde. Auch sogenannte Kleinstparteien – bei den Ergebnissen von Bundestagswahlen als “Sonstige” vernachlässigt – haben so eine bedeutend höhere Chance auf einen Sitz im Europaparlament. Aktuell reichen etwa 0,5 Prozent der Stimmen aus, um einen Sitz zu bekommen.
Neben den im Bundestag vertretenen Parteien (CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke, AfD), landeten so zum Beispiel auch die ÖDP, Die Partei oder die Piratenpartei Deutschland im Europaparlament – und mit einigen von ihnen auch das Thema Grundeinkommen. Nach der Wahl am Sonntag könnten weitere Grundeinkommens-Befürworter hinzukommen.
Am konkretesten wird Demokratie in Europa. Sie fordern eine Europäische Bedingungslose Grunddividende. Damit soll ein erster Schritt hin zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen gewagt werden. Die Grunddividende soll aus einem Fonds finanziert werden, der sich aus Vermögenswerten der Zentralbanken, einem Prozentsatz des Grundkapitals jedes Börsengangs und aus Einnahmen aus geistigen Eigentumsrechten speist.
Die Ein-Themen-Partei Bündnis Grundeinkommen fordert die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens, das die vier Wesenszüge des Grundeinkommens beinhaltet. Die Partei tritt zum ersten Mal bei einer Europawahl an.
Die paneuropäische Partei Volt will das Bedingungslose Grundeinkommen testen. In ihrer Amsterdam Declaration, dem Wahlprogramm der Partei, spricht sich die neue Partei für eine Resolution aus, um ein neues Sozialsystem anzugehen. Oder anders benannt: ein europäisches Pilotprojekt zum Bedingungslosen Grundeinkommen.
Auch die Neuen Liberalen sprechen in ihrem Programm von einem Bedingungslosen Grundeinkommen in Höhe von 1.250 Euro. Sollte beispielsweise jemand durch seine Pension unter diese Grenze fallen, würde das Bedingungslose Grundeinkommen nach ihrem Willen automatisch einspringen.
Ergänzung vom 23. Mai.: Und auch Die Humanisten setzen sich für ein Bedingungsloses Grundeinkommen ein – finanziert über eine negative Einkommenssteuer. Diese Beispielrechnung zeigt detailliert, wieso Die Humanisten ein Grundeinkommen befürworten.
Das Grundeinkommen als Chance für Europas Zukunft
Europa scheint noch einen weiten Weg vor sich zu haben, wenn es um das Bedingungslose Grundeinkommen geht. Bei vielen Parteien wird die Idee im Europawahlprogramm nicht einmal erwähnt. Das erstaunt, denn in nationalen Wahlprogrammen und Debatten spielt sie durchaus eine Rolle: So fordern immer mehr Arbeitskreise in fast allen Parteien wissenschaftliche Arbeiten, konkrete Modellprojekte oder diskutieren zumindest ergebnisoffen das Bedingungslose Grundeinkommen – bislang aber eben nur auf regionaler oder nationaler Ebene.
Die deutsche Parteienlandschaft ist dafür das beste Beispiel: Die Grünen fordern eine bedingungslose Grundsicherung. Die SPD rückt von den Sanktionen bei Hartz IV ab und fordert ein Bürgergeld und Die Linke fordert eine sanktionsfreie Mindestsicherung – aber eben nur in Deutschland. Für Europa erscheint das noch zu abstrakt. Das ist schade, denn was auf nationaler Ebene momentan durch restriktive Sozialprogramme zu Konkurrenz, Misstrauen und einer beängstigenden Atmosphäre führt, wird auf europäischer Ebene zu einer Frage der Nationen.
Die Menschen in Europa sind dem Markt ausgeliefert. Ein europäischer Markt und eine europäische Währung, aber kein einheitliches europäisches Sozialsystem? Ein Europäisches Grundeinkommen könnte das schaffen, was momentan in aller Munde ist: die dringend nötige Neubegründung Europas und eine Investition in alle Menschen in Europa.
Uns ist Folgendes wichtig: Unsere Übersicht ist nur ein Ausschnitt aus der vielschichtigen Parteienlandschaft und ersetzt nicht die selbstständige Recherche zu den Inhalten der Parteien. Falls wir etwas übersehen haben, schreib es uns gerne in die Kommentare. Wir hoffen auf eine hohe Wahlbeteiligung und sind gespannt auf die letzten Tage des Wahlkampfs.