Eine Gesellschaft, die ständig getrieben ist, riskiert, aus dem Kontakt miteinander zu gehen, so der Soziologe Hartmut Rosa. Die unaufhörliche Beschleunigung beeinträchtigt so nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch unser Miteinander und untergräbt so unsere sozialen Strukturen.
In der Bahn zur Arbeit schnell noch die überfällige E-Mail an den Kollegen beantworten – bzzz, da vibriert sich WhatsApp in den (Bewusstseins-) Vordergrund: “Hey, ich wollte uns vor Weihnachten nochmal alle zusammentrommeln, wie sieht’s bei dir am 18. Dezember aus?” Gut, das ist ja noch eine Weile hin, sollte kein Problem sein. Oder?
Der Kalender sagt, das ist der Abend, bevor wir zur Familie fahren. Da wollte ich eigentlich unbedingt nochmal Sport machen vor der Völlerei. Ich bewege mich schon wieder viel zu wenig in letzter Zeit, das Meditieren habe ich auch längst aufgegeben. Damit fange ich am besten heute Abend wieder an!
Mir gegenüber ist eine Mutter damit beschäftigt, ihre zwei quirligen Kinder zu besänftigen, während sie (erfolglos) versucht, nebenbei mit ihrem Handy eine Sprachnachricht zu versenden. Sie sieht müde aus. Auf dem Sitz neben ihr durchblättert jemand im Blaumann konzentriert Unterlagen und lehnt sich dann für einen Moment zurück, schließt die Augen und versucht, inmitten der Hektik der U-Bahn einen Moment der Ruhe zu finden.
Mist, die E-Mail. Jetzt aber schnell. "Hallo, ich verkaufe das Straßenmagazin die 'motz', hat jemand Interesse?" Meine Nervenenden vibrieren. Ich kann gerade nicht, jetzt ist ein ganz schlechter Moment für so was. Und das "so was", man ahnt es vielleicht – das ist das Leben.
"Keine Zeit, ich muss weiter" könnte eigentlich mein Motto sein. Wenn ich doch bloß den Pauseknopf finden könnte. Geht's dir oft genauso? Die gute Nachricht lautet: Es ist nicht deine Schuld, denn das Ganze ist systemischer Natur. Selbst die Profis kommen da nicht dran vorbei.
"Alle Resonanzachsen unter extremem Beschleunigungsdruck"
Wenn man dem Soziologen Hartmut Rosa dieser Tage eine E-Mail schreibt, bekommt man automatisch diese Nachricht zurück: "Mein Kalender ist randvoll und alle Resonanzachsen stehen längst unter extremem Beschleunigungsdruck", steht da unter anderem. Man wünscht sich beim Lesen fast, selbst Autor*in dieser Zeilen gewesen zu sein, die so viel mehr ausdrücken, als zunächst sichtbar wird.
Die Gesellschaft ringt nach Atem. Wir kommen nicht nach, hecheln hinterher aus einem gefühlten Bedürfnis heraus, immer noch mehr zu schaffen und stets verfügbar zu sein. Die Grenzen zwischen Arbeit und Leben lösen sich auf, das Gleichgewicht zwischen digitaler Vernetzung und echtem menschlichen Kontakt wankt.
So aktuell, dass du es unbedingt (nochmal) lesen solltest: Der Soziologe Hartmut Rosa im Gespräch mit Mein Grundeinkommen.
Wir werden quasi ständig von Anforderungen belagert: den eigenen wie denen der anderen. Besonders schlimm daran ist aber: Die sind oft auch noch legitim. Öfter mal nach der verwitweten Nachbarin sehen? Legitim. Sport machen und sich gesund ernähren wollen? Legitim. Hochzeitstag nicht vergessen sollen? Legitim.
Noch schlimmer ist: Wir können das theoretisch auch. Und zwar ständig und überall, denn zuhause ist das Büro ist die S-Bahn ist online ist… zu viel. Der Horizont dessen, was wir als machbar und notwendig erachten, ist schier unendlich und wir befinden uns in einem Zustand permanenter Verfügbarkeit.
Hartmut Rosa spricht in diesem Zusammenhang von einer "Multianklopfgesellschaft", in der es keine echte Muße mehr gibt – eben weil ständig jemand (oder etwas) anklopft, aber auch, da wir "Lücken" reflexartig mit etwas "Produktivem" füllen.
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Und jetzt kommt es noch dicker: Das ist alles nicht nur absolut fies uns selbst gegenüber. Diese unaufhörliche Beschleunigung und Verdichtung unserer Lebenswelt führt auch dazu, dass wir uns zunehmend entfremden – sowohl von uns selbst, als auch von der Welt um uns herum. So verlieren wir die Fähigkeit, tiefe und bedeutungsvolle Beziehungen einzugehen und zu pflegen.
In einer Welt, in der jeder Moment optimiert und jede Interaktion effizient gestaltet werden muss, bleibt wenig Raum für spontane, authentische Begegnungen und das gemeinsame Erleben von Momenten, die uns wirklich berühren und verbinden. Und das ist ganz, ganz schlecht für unser Miteinander. Wer es nicht glaubt, mag vielleicht einen Blick auf unsere Debattenkultur werfen.
Rosa sieht die Suche nach dem, was er Resonanz nennt – dem erfüllten, in der Welt verankerten Leben, in Beziehung mit der Umwelt und den Mitmenschen – als etwas uns Menschen Ureigenes. Um in unserer Zeit aber wahrhaft resonanzfähig zu bleiben, müssen wir Wege finden, innezuhalten. Wir müssen überlegen, wie wir unser Leben so gestalten können, dass es nicht nur effizient, sondern auch erfüllt ist.