Was hat das Grundeinkommen mit Nachhaltigkeit und Entschleunigung zu tun? In Adrienne Goehlers neuem Buch eröffnen 52 Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, ihre Perspektiven auf genau diese Frage. Im Video-Interview spricht die Publizistin, Kuratorin und ehemalige Berliner Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur mit uns über die Entstehung ihres Buches und erklärt, was sie vom Grundeinkommen als Corona-Krisenhilfe hält.
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Bereits 2010 ist ja das Buch, das du gemeinsam mit Götz Werner, dem DM-Gründer, geschrieben hast, erschienen. Mit dem Titel: "1.000 € für jeden". Nun folgt das zweite Buch, das sich mit dem Grundeinkommen auseinandersetzt. Du setzt dich schon lange öffentlich für das Thema ein. Wie ist dein Interesse an der Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens entstanden?
Adrienne Goehler: Das hat eine ganz alte Geschichte. Ich habe ja, bevor ich Senatorin wurde, zwölf Jahre lang die Kunsthochschule in Hamburg geleitet und habe unfassbar viele coole Leute mit coolen Ideen – Design, Architektur, Film, bildende Kunst – gesehen und dann aber auch gesehen, wie sie es nicht schaffen von ihrer Kunst zu leben. Und ich dachte: Wie blöde für eine Gesellschaft, die keine Bodenschätze hat, sondern auf die intellektuellen und emotionalen Ressourcen der Leute angewiesen ist, also eine schöpferische Fähigkeit.
Wir haben gut ausgebildete Künstler*innen und Wissenschaftler*innen und wir holen eigentlich deren Wissen gar nicht in die Gesellschaft rein. Also dachte ich, braucht es ein Fundament, braucht es so etwas wie ein Grundauskommen, damit die Menschen ihrer Neigung, ihrer Fähigkeit, ihrem Können und ihren Wünschen nachgehen können. Das ist für die Gesellschaft auch mit das Beste, was man haben kann.
In dem neuen Buch machst du ja jetzt noch was anderes auf: ein Dreieck zwischen Entschleunigung, Nachhaltigkeit und Grundeinkommen. Was hat denn das Grundeinkommen mit den anderen beiden Dimensionen zutun?
Adrienne Goehler: Mir geht es schon seit vielen Jahren auf den Senkel, dass eigentlich alle Denkrichtungen in Silos verortet sind. Dort ist die Ökologie, dort ist das Grundeinkommen, dort ist Soziales und hier ist Bildung. Ich denke, das hätten wir eigentlich schon länger verstehen können, müssen und dürfen, dass Alles mit Allem zusammenhängt.
Ich bin Ökologin, ich habe die Grünen mitgegründet – habe sie aber auch mal wieder verlassen – und es ist in meiner DNA zu sagen: Natürlich brauchen wir als Menschen den Planeten, der Planet braucht nicht uns. Wenn wir aber so weitermachen, dann wird eine menschliche Existenz einfach zuende gehen. Ich fänds schön, wenn wir noch ein bisschen Zeit hätten, kluge Sachen zu unternehmen.
Also denke ich, wir brauchen so etwas wie ein angstfreies Fundament, um dann in die Fragen von Nachhaltigkeit überhaupt einsteigen zu können. Du kannst mit einer chronischen Existenzangst nicht nachhaltig leben. Das ist meine Quintessenz, die ich ziehe. Und um mich herum höre ich nur Menschen, die sagen: Ich würde wahnsinnig gerne das und das tun, aber mit Kindern und XYZ kann ich das alles nicht verbinden, also: Ich brauche Zeit.
Es gibt jetzt glaube ich eine Erfahrung von einer anderen zwangsentschleunigten Zeit. Ich würde mich freuen, in eine Richtung gehen zu können, wo wir eigenbestimmt über Entschleunigung sprechen können. Und das auch wiederum wäre mit einem Grundauskommen richtig.
Grundauskommen?
Adrienne Goehler: Das ist vielleicht wichtig, dass ich das nochmal sage: Ich fühle mich schon als Teil der Grundeinkommensbewegung. Ich lade aber ein, dringend diesen Gedanken des EINkommens als GrundAUSkommen weiter zu denken. Mir geht es immer stärker darum, dass es ein Menschenrecht ist. Am Wort Einkommen klebt etwas, vor dem Leute zurückschrecken und sagen: Wofür soll ich ein Einkommen kriegen, wenn du gleichzeitig sagst, ich soll nichts dafür tun?
Das scheint als Denkfigur kompliziert zu sein. Und das Grundauskommen ist mir sozusagen das allerschönste. Es gibt ein Grundauskommen, um dann das zu tun, was ich glaube, man mit einem Grundeinkommen kann: nämlich ein Paradigmenwechsel von müssen und sollen zu können und wollen.
Abgesehen von dieser Verbindung zwischen Grundauskommen, Entschleunigung und Nachhaltigkeit, was macht dieses Buch anders als andere Bücher zum Grundeinkommen?
Adrienne Goehler: Es ist wahnsinnig schön (lacht). Was normalerweise weder in der Grundeinkommens- noch in der Nachhaltigkeitsszene eine Rolle spielt. Es sind 52 Zugänge, die sehr unterschiedlich sind. Ich habe einfach Leute gefragt. Das geht von einer katholischen Nonne über den Chef der GLS-Bank bis hin zu einer Schauspielerin und Regisseurin, die einen Grundeinkommensversuch in der Schweiz gemacht hat, damit gescheitert ist und sagt: Ja, vom Scheitern muss man lernen, das ist total wichtig.
Das sind einfach ganz heterogene, wunderbare Geschichten. Also mir ging es um Geschichten: Wie nähern sich Menschen an dieses Dreieck an? Und es ist glaube ich sehr gut gelungen.
Du hast mit so vielen verschiedenen Autor*innen zusammengearbeitet. Gibt es eine Perspektive darunter, die dich überrascht hat, dich irgendwie mitgenommen hat?
Adrienne Goehler: Ich habe etwas bestätigt bekommen, was mich vorher hochgradig beunruhigt hat. Wenn du ins wissenschaftliche Netz gehst und nach Nachhaltigkeit und Grundeinkommen suchst, dann findest du so gut wie keinen vernünftigen wissenschaftlichen Artikel dazu. Das hat mich total geflippt. Ich habe gedacht, das kann einfach nicht sein. Es ist nicht präsent. Und wenn du in die Grundeinkommensliteratur guckst, dann findest du auch nichts zur Nachhaltigkeit.
Ich habe durch das Buch den dringenden Wunsch bestätigt gefunden, dass man die Dinge in eine Überlappung, in eine Verbindung, in eine Durchlässigkeit bringt. Das ist das Schöne daran. Wenn du mit einer Hypothese losziehst, die dir hätte auch komplett aus der Hand geschlagen werden können und alle hätten gesagt: Bist du irre oder was. Aber plötzlich merkte man: Aha, genau. Hier fehlt was und dort fehlt was. Das fand ich eine unglaublich wichtige Erfahrung.
Man kann so durch das Buch durchschlendern. Ich glaube kein Artikel oder kein Interview ist länger als zwölf Seiten, sodass man sich immer mal wieder eine andere Perspektive zu eigen machen kann. Das ist angenehmer, als 356 Seiten Theorie durchzuwälzen von einer Person. Nein, es sind einfach sehr heterogene Geschichten, Zugänge, Narrative.
Aber das heißt, alle Autor*innen haben die Verbindung auch hergestellt?
Adrienne Goehler: Mehr oder weniger. Also es hat niemand gesagt: Was für ein Blödsinn. Natürlich ist die Frage von Entschleunigung in Afrika eine andere, als hier in unseren Turbo-Beschleunigungsverhältnissen. Trotzdem ist natürlich auch da sichtbar, dass Frauen, die einen Haushalt haben, die Kinder haben, die Schulbetreuung usw., dass die auch in einem wahnsinnigen Stress sind.
Das ist dann alles relativ, aber du merkst, wie wichtig der Gedanke, dieses “Kann ich mich mal zur Ruhe setzen”, ein bisschen den Abstand zu etwas gewinnen, ist, um überhaupt wieder neuen gedanklichen Freiraum zu kriegen. Um den Möglichkeitsraum, den eben Grundeinkommen, Grundauskommen aufmacht, auch wahrzunehmen.
Du hast das eben auch schon angesprochen, dass wir jetzt gerade zu Zeiten dieser Coronakrise mit einer Art Zwangsentschleunigung und dem Zwang, nicht arbeiten zu können, aber natürlich auch dem negativen Teil, dass Carearbeit jetzt wieder zuhause geleistet werden muss, konfrontiert sind. Jetzt haben fast eine Million Menschen in den vergangenen Wochen auf dem ein oder anderen Weg ihre Stimme für ein Grundeinkommen in der Coronakrise abgegeben. Was hältst du denn von einem Grundeinkommen als temporäre Krisenhilfe?
Adrienne Goehler: Also, wenn ich die Kraft hätte, würde ich an die drei Parteien von Berlin schreiben und sagen: Eine Hauptstadt muss ein Laboratorium sein. Die Hauptstadt hat Erfahrungen gemacht mit einer Soforthilfe. Ich würde davon ausgehen, dass die Soforthilfe bis Ende des Jahres gezahlt werden soll für alle Soloselbstständigen, und finde, dass wir eine wissenschaftliche Begleitung dessen brauchen. Und, dass Leute, die diese Soforthilfe kriegen, sich bereit erklären müssten darüber nachzudenken, was es mit ihnen gemacht hat.
Ich würde sagen, wir könnten einfach einen Begriff, den wir neu aufladen müssen, verwenden. Ihr erinnert euch, dass der Bürgermeister vor ein paar Monaten über solidarisches Grundeinkommen gesprochen hat und ich fand immer, das ist Hartz V und sonst gar nichts. Vielleicht könnten wir dem solidarischen Grundeinkommen eine zweite Chance geben und sagen: Das machen wir temporär und dann werten wir das wirklich aus, auch gemeinsam aus. Nicht nur da oben in der Politik, sondern die Leute, die sich damit vielleicht ein anderes Moment von Luft verschaffen konnten. Das würde mich interessieren. Das fände ich jetzt eigentlich angemessen. Wir in der Hauptstadt.
Das heißt, du würdest dieses temporäre Grundeinkommen befürworten, um es als Testlauf für ein Grundeinkommen, für ein bedingungsloses, dauerhaftes Grundeinkommen zu sehen?
Adrienne Goehler: Grundeinkommen ist, wenn es temporär ist, wenn es auch erstmal nur an Soloselbstständige gehen würde eben nicht das Bedingungslose Grundeinkommen für alle. Aber ich glaube, es würde uns sehr viel an Erkenntnissen ermöglichen und ich fänd es richtig gut.
Vielen Dank für das Interview. Das war Adrienne Goehler über ihr neues Buch. Es heißt: "Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung braucht Grundein/auskommen ermöglicht Entschleunigung ermöglicht Nachhaltigkeit".
Adrienne Goehler: Wie mir jemand sagte: der längste Titel der Welt.
Der längste Titel ever, aber man versteht ihn.
Adrienne Goehler: Ja, ich dachte: Man weiß sofort, was das Konzept des Buches ist. Inhaltsangabe im Titel.
Vielen Dank dir, Adrienne.
Adrienne Goehler: Und viel Glück und toi toi toi und herzlichen Glückwunsch für die Leute, die heute die große Chance haben.
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