Kaum ein Gefühl ist so sehr in uns verankert wie die Existenzangst. Auch Marlene kennt sie. Erst das Grundeinkommen nimmt ihr privat und beruflich die Angst vor dem Abstieg.
Surft man auf die Internetseite eines Jobcenters, zum Beispiel dem in Berlin-Lichtenberg, stößt man dort auf den Grundsatz des "Forderns und Förderns". "Wir wollen gemeinsam mit Ihnen alles tun, um Ihre Hilfebedürftigkeit durch Integration in das Erwerbsleben zu beenden bzw. zu verringern", heißt es da. Unter Fördern versteht das Jobcenter die "aktive Suche nach einem Arbeitsplatz", unter Fordern die "aktive Mitwirkung und Eigeninitiative bei der Suche". Um Aktivität geht es also.
Das Konzept des "Forderns und Förderns" – von der SPD unter Gerhard Schröder vor zwanzig Jahren immer wieder zitiert – will, dass Menschen Leistung erbringen, die dann finanziell entlohnt wird. Es folgt also einer Leistungslogik. Doch was, wenn man diese Logik umkehren würde?
Marlene ist die Tochter von Hoteliers aus München, sie hat BWL studiert. Nach neun Jahren in einem größeren Konzern bat ihr Vater sie und ihre Schwester darum, in das Hotelgeschäft der Familie einzusteigen. Marlene haderte, wollte Bedenkzeit. Sie war gerade dabei, eine Ausbildung zur Mentaltrainerin abzuschließen und entschied sich schließlich für ein mehrmonatiges Sabbatical, eine Auszeit, um sich ihren Kindheitstraum zu erfüllen: eine Reise nach Neuseeland.
Marlene gehört also zum materiell abgesicherten Teil der Bevölkerung. Als Hotelerbin trägt sie zwar ein potenzielles unternehmerisches Risiko, hat aber auch die Aussicht auf eine finanziell lukrative Zukunft. 'Die Probleme von Marlene würde ich gerne haben', denken jetzt sicher viele.
"Mache ich das, weil ich muss oder weil ich will?"
Während ihres Sabbaticals in Neuseeland spricht Marlene erstmals mit Freunden über das Grundeinkommen und die Utopie dahinter. Zurück in Deutschland, nimmt sie an der Verlosung von Mein Grundeinkommen teil und gewinnt prompt. "Am Anfang war’s wie ein Lottogewinn. Da hatte ich noch keine Vorstellung davon, dass es nicht einfach nur tausend Euro sind", sagt Marlene, "sondern dass das Geld etwas mit mir macht."
Der Gewinn des Grundeinkommens ist auch ein Grund dafür, dass sich Marlene letztendlich für den Einstieg in die Hotellerie entscheidet. Sie will das Risiko wagen und sieht im Familienbetrieb mehr als ein "nüchternes Geschäft". Die 1.000 Euro im Monat erleichtern ihr die Entscheidung.
Denkt Marlene an ihr Grundeinkommensjahr zurück, berichtet sie, dass das Geld ziemlich schnell zur Normalität wurde, zu einer Überweisung, die einmal monatlich auf ihrem Konto landete. Aber diese Überweisung löst auch etwas in ihr aus: "Das Grundeinkommen hat vieles verändert. Ich habe mich gefragt: Wem gebe ich Geld und wem Zeit? Mache ich das, weil ich muss oder weil ich will? Was kann ich damit erreichen?"
Marlene sagt, sie sei dankbarer geworden und habe das Bedürfnis verspürt, "etwas zurückzugeben", und zwar den Menschen, die wollen, dass sie ihr Potenzial entfalte. "Also zeige ich das auch."
„Das Grundeinkommen ist wie eine Bergtour: Wer Angst hat, einen Gipfel zu erklimmen, dem hilft es nicht, wenn man ihm minutiös die verschiedenen Routen erklärt. Man muss in ihm die Begeisterung für die Berge wecken.“
Marlenes Geschichte zeigt, wie die Logik des "Forderns und Förderns" umgekehrt werden kann. Statt von einem Individuum einzufordern, etwas zu leisten, um dafür entlohnt zu werden, kann aktives Engagement gefördert werden – wenn die Gesellschaft dem Einzelnen zutraut, seine Potenziale abzurufen. Dabei ist es ganz egal, ob das Potenzial sozialer, künstlerischer, sprachlicher, physischer oder unternehmerischer Natur ist. Aus "Fordern und Fördern" wird "Wer gibt, dem wird gegeben".
Vor diesem Hintergrund kann das Grundeinkommen auch Abhilfe gegen Existenzängste schaffen, also der Angst davor, das eigene Leben nicht zu meistern, abzurutschen oder eigene Ziele zu verfehlen. Laut einer Studie der Universität Kassel aus dem Jahr 2012 machen sich 40 Prozent der Deutschen "große Sorge um ihren Arbeitsplatz". Etwa 50 Prozent glauben, im Alter deutlich kürzer treten zu müssen Etwa 60 Prozent befürchten, dass sich soziale Notlagen künftig häufen könnten.
Nicht nur Hartz IV-Empfänger*innen haben Existenzangst
Existenzängste scheinen ein Symptom unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert zu sein – und dass auch vermeintlich solide abgesicherte Menschen wie Marlene damit zu kämpfen haben zeigt, dass Existenzängste kein Alleinstellungsmerkmal von Geringverdiener*innen oder Hartz IV-Empfänger*innen sind.
"Existenzängste sind in uns allen sehr verankert. Diese Ängste waren beispielsweise da, als ich mich gefragt habe, ob ich länger nach Neuseeland gehen sollte. Ich würde ja gerne eine lange Reise machen, aber ich kann nicht, weil…"
Mit dem Grundeinkommen habe sich das verändert, sagt Marlene. "Ich hatte keine Existenzängste mehr und habe ganz mutig gelebt und ins Leben investiert. Ich habe so eine Power gehabt. Ich habe mich immer für mich entschieden, bin ins Vertrauen gegangen und habe in allen Bereichen alles gegeben", berichtet sie. Insofern sei das Grundeinkommen "nicht nur Geld", sondern ein Gefühl: "Wertschätzung und Zutrauen. Und es ist so egal, wie viel Geld ich ausgebe und für was. Sondern wie ich es ausgebe. Mit welcher Haltung."
Im Fall von Marlene hat das Grundeinkommen einen Menschen dazu ermutigt, beruflich proaktiv aufzutreten und sich selbstbestimmt für einen Lebensweg, für eine Karriere zu entscheiden.
"Mich kann man nicht in eine Schublade stecken"
Aber auch privat kann das Grundeinkommen die eigene Situation verbessern: Marlene war lange Single und hatte eine sehr klare Vorstellung davon, wie ihr künftiger Partner zu sein hätte. In den zwölf Monaten mit Grundeinkommen sei sie authentischer geworden, berichtet sie. Sie habe gelernt auszuleben, was sie leben will – nicht, was vermeintlich gut für sie wäre.
"Ich bin freiheitsliebender geworden! Mich kann man nicht in eine Schublade stecken", sagt Marlene. "Das kann ich jetzt ausleben. Das strahle ich jetzt aus, und das ziehe ich offensichtlich an. Das Grundeinkommen hat es mir leicht gemacht, mich noch mehr von der Meinung anderer unabhängig zu machen. Das hat mich stärker gemacht, meinen eigenen individuellen Weg zu gehen." Inzwischen ist Marlene verheiratet.
Unser Gastautor Jan Karon ist freier Journalist in Berlin. Er hat u.a. schon für Vice, Cicero Online und Zeit Online geschrieben. Marlenes Geschichte ist Teil unseres Bestsellers "Was würdest du tun?", der als Buch im Econ Verlag und als Hörbuch im Argon Verlag erschienen ist.