Wie überwinden wir die soziale Spaltung? Indem wir die Bedingtheit unseres Sozialsystems überwinden, damit niemand mehr durchs Raster fallen kann, sagt der Philosoph Philip Kovce. Ein Plädoyer für die drei Freiheiten des Grundeinkommens.
Stellen wir uns einmal Folgendes vor: Wir befinden uns in einem großen Land im Herzen Europas. Vor rund anderthalb Jahrhunderten wurde dort der moderne Sozialstaat etabliert: Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung – das alles ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Sozialleistungen für unzählige weitere Bedürfnislagen.
Doch obwohl der gesellschaftliche Wohlstand längst aus allen Nähten platzt, obwohl aus leeren Regalen längst übervolle geworden sind, können sich viele Menschen nur mit Mühe und Not das Nötigste leisten. Manche nicht einmal das. Sie stehen mit leeren Händen da – trotz übervoller Regale, trotz toller Sozialleistungen.
Das große Land der übervollen Regale heißt Deutschland. Und die tollen Sozialleistungen, die hier einst erfunden wurden, haben fast immer einen Haken: Sie gelten nur bedingt. Man muss sie sich erst fleißig verdient haben, wie die Rente, oder fleißig verdienen wollen, wie Hartz IV. Man muss dafür entweder krank oder behindert sein. Und zwar genau so, wie es im Gesetz definiert ist. Wer in keine Schublade passt, fällt durchs Raster.
In unserer neuen SerieDas Themabeleuchten wir diesmalDie soziale Spaltung. Wie sehr bestimmen Armut oder Reichtum unser Leben – und können wir diese Spaltung irgendwie überwinden? Diskutiere mit und abonniere unseren Newsletter, um nichts zu verpassen.
Unbedingte, unbürokratische Hilfe, wenn es darauf ankommt? Vertrauen statt Kontrolle? Freiheit statt Zwang? Pustekuchen. Stattdessen heißt es: Paragraphenreiten im Behördendschungel. Die nimmersatte Verwaltungsraupe will schier endlos mit Papier gefüttert werden.
Ein gutes Beispiel für schlechte Sozialleistungen ist Hartz IV. Es soll dafür sorgen, dass das vom Bundesverfassungsgericht verbriefte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums tatsächlich gewährt wird. Dumm nur, dass der Hartz-IV-Regelsatz von den Jobcentern um 30 Prozent gekürzt werden darf. Welche 30 Prozent von Leib und Leben sind entbehrlich? Arme? Beine? Kopf?
Das kalte Herz von Hartz IV schlägt seit 2005 unerbittlich. Es gibt den sozialpolitischen Takt in der Bundesrepublik vor. Wer nicht hören kann, muss fühlen! So lautet das inoffizielle Credo dieser amtlichen Züchtigung. Sie fördert Verzweiflung statt Begeisterung. Sie fordert Gehorsam statt Mündigkeit. Sie schürt Schmarotzer-Vorurteile und protegiert Bullshit-Jobs.
Die dreifache Freiheit, Ja und Nein und Vielleicht zu sagen
Dabei ist es doch so: Digitalisierung und Automatisierung führen andauernd zu einer „technologischen Entmenschlichung“ der Arbeit. Die gesellschaftliche Antwort darauf muss eine „humanistische Vermenschlichung“ des Zwischenmenschlichen sein, wenn wir nicht in einem Gemeinwesen enden wollen, das 24/7 kontrolliert, ob wir fleißig oder faul, brav oder bockig sind.
Wenn wir nicht alsbald dafür sorgen, dass die „technologische Entmenschlichung“ der Arbeit mit einer „humanistischen Vermenschlichung“ des Zwischenmenschlichen einhergeht, dann landen wir früher oder später im digitalen Überwachungssozialstaat. In einem System, dessen Algorithmen automatisch Grundrechte deaktivieren. In einer smarten Hartz-IV-Diktatur.
Angesichts dieser düsteren Aussichten stellt das bedingungslose Grundeinkommen einen geradezu utopischen Lichtblick dar. Das Grundeinkommen garantiert das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ohne Wenn und Aber – mit minimalem bürokratischen Aufwand.
Über unseren Gastautor
Philip Kovce, Ökonom und Philosoph, forscht an den Universitäten Witten/Herdecke und Freiburg im Breisgau und engagiert sich seit Jahren für das Bedingungslose Grundeinkommen. Besonders lesenswert ist der von ihm herausgegebene Sammelband „Bedingungsloses Grundeinkommen. Grundlagentexte“. Zuletzt veröffentlichte Kovce den Kolumnenband „Ich schaue in die Welt. Einsichten und Aussichten“, in dem er der Welt ins Herz schaut.
Doch nicht nur das: Das Grundeinkommen stärkt und stützt das Fundament der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, indem es eine neue Freiheit des Ja-, Nein- und Vielleicht-Sagens ermöglicht.
Das Grundeinkommen lässt uns leichter Ja sagen – Ja zu einem Job, der uns sinnvoll erscheint; Ja zu einer Firma oder Familie, die wir gründen wollen; Ja zu einer Auszeit, die für uns ansteht. Die Ja-Freiheit ist die positive Freiheit des Grundeinkommens.
Zugleich bekräftigt das Grundeinkommen die Nein-Freiheit: Miese Arbeitsbedingungen? Fiese Ausbeutung? Nein, danke! Schikane daheim? Gefesselt am Herd? Nein, danke! Die negative Freiheit des Grundeinkommens ist eine Anti-Bullshit-Freiheit.
Außerdem unterstützt das Grundeinkommen die Vielleicht-Freiheit – die Freiheit freier Zeit und langer Weile. Wer gehetzt und gestresst durchs Leben hastet, ist anfällig für falsche Jas und Neins. Während falsche Jas und Neins Faulheit und Krankheit Vorschub leisten, ermöglichen grundeinkommensgesicherte Ruhe und Muße entscheidende Schritte zur rechten Zeit.
Nie mehr mit leeren Händen vor vollen Regalen stehen müssen
Kurzum: Das Grundeinkommen sorgt für Freiheit hoch drei, indem es uns leichter schwere Ja-Nein-Vielleicht-Entscheidungen treffen lässt. Es sorgt dafür, dass niemand vor übervollen Regalen mit leeren Händen dasteht und dass die Menschenwürde nicht nur zu 70 Prozent, sondern zu 100 Prozent unantastbar ist.
Sorgen wir also dafür, dass sich die nimmersatte Verwaltungsraupe des Bismarck’schen Sozialstaats als Grundeinkommensschmetterling entpuppt.
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