Micha sitzt übermüdet neben mir am Tisch und repariert die Bugs der Tandem-Seite, dem Kernstück unserer neuen Kampagne. Er hat schon die zweite Nacht dafür durchgemacht, die Kampagne fertigzustellen. Scherzhaft sage ich: ”Na immerhin ist es nicht der Kapitalismus, der dich zwingt das zu tun, sondern deine Leidenschaft”. Er lacht und sagt dann ein bisschen nachdenklich: ”Naja, es ist der Kapitalismus im Kopf.”
Was ich verstehe: Trotz unseres hohen Anspruchs bei Mein Grundeinkommen alles anders, besser und freier zu machen, trotz unseres Wunsches gut zu arbeiten UND ein erfülltes Leben zu leben, stehen wir unter hohem Leistungsdruck. Einfach nichts zu tun, die Dinge sein zu lassen, es auszuhalten, dass etwas nicht perfekt läuft, das ist gar nicht so einfach!
Es gibt ja immer auch noch mehr zu tun! Wir sprudeln vor Ideen und wir haben eine große Vision: die Gesellschaft zu verändern und allen ein besseres Leben zu ermöglichen. Wir wollen ein Umdenken anzetteln, Debatten lostreten und Dinge ausprobieren. Neue Wege gehen. Was uns antreibt, ist nicht der Wunsch nach einer Karriere oder gar unser Gehalt. Sonst wären wir woanders mit Sicherheit besser aufgehoben. Nein, wir wollen etwas erreichen! Und der Erfolg soll sichtbar sein. Er soll spürbar sein. Zum Anfassen.
Ich habe vor Kurzem berichtet, dass ich auch voll mitarbeite, obwohl ich nicht “muss”. Das bedeutet, dass ich richtig viel Spaß habe, aber auch, dass ich oft völlig müde nach Hause komme und nicht immer richtig abschalten kann, weil ich Gedanken habe wie: Habe ich alles geschafft, was ich mir vorgenommen habe? Gibt es noch irgendetwas Dringendes zu tun? Den einen Post auf Twitter kann ich noch eben machen…und die eine Frage noch recherchieren.
Mein ganzer Tag ist somit von Mein Grundeinkommen bestimmt. Ich bleibe immer länger im Büro, als ich es mir vorgenommen habe. Und auch an meinem freien Tag erledige ich Dinge für die Arbeit im Home Office. Oder ich komme dann doch ins Büro, weil es eben wichtig ist. Und mein Freund fragt mich:
Wo ist eigentlich dein Ausgleich, was machst du noch, außer deinem Praktikum?
Wenn ich abends zu Hause sitze und doch nochmal checke, was die Kolleg_innen im Teamchat geschrieben haben und wenn ich dann anfange Dinge für Mein Grundeinkommen zu tun, fange ich langsam an zu verstehen, was die ganze Debatte um die Work-Life-Balance eigentlich antreibt. Es schlagen dann zwei Herzen in meiner Brust: Das eine sagt mir, dass ich an etwas Großem mitarbeiten darf, dass es mir einfach richtig viel Freude bereitet. Ich bin doch noch so jung, ich probiere das alles erstmal aus! Das andere fragt mich, was ich eigentlich von meinem Leben will, was meine Prioritäten sind und wo meine individuellen emotionalen und körperlichen Grenzen liegen.
Ist das Selbstausbeutung oder Leidenschaft?
Ist das die totale Freiheit, aber eben Kapitalismus in meinem Kopf? Ist es nicht eh so, dass diese Grenzen verschwimmen? Oder muss ich sie nun besonders bestimmt ziehen, um “leistungsfähig” zu bleiben? Sind das nicht genau die Hauptsymptome des Neoliberalismus? Und was denken dann meine Kolleg_innen, die ja trotzdem so lange und intensiv arbeiten, während ich zuhause bin und mich entspanne?
Das klingt so, als würde ich einfach Gefahr laufen mich zu überarbeiten. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. “Kapitalismus im Kopf” bedeutet auch, dass es mir auf eine seltsame Weise ein gutes Gefühl gibt genau am Limit zu arbeiten, erschöpft zu sein, produktiv zu sein und davon zu erzählen, wie viel und wie hart ich arbeite und mich in meinen Leistungen selbst zu übertreffen …das schaffe ich auch noch…und das…und das…
Aber ist dieses “gute” Gefühl wirklich Freude oder irgendwie das, was man unter Glück versteht? Oder ist das irgendwie “schlecht”? Woher kommt das? Wo führt das hin?
Und vor allem: Warum ist so viel Anerkennung damit verknüpft so viel zu arbeiten, dass bestimmte Grundbedürfnisse nicht immer ausreichend erfüllt werden? Fast so, als wäre es zu einfach, wenn einfach alles stressfrei und in Balance wäre. Oder so, als müsste ich jeden Tag beweisen, dass ich nicht nutzlos bin. Als müsste ich meine gesellschaftliche Teilhabe rechtfertigen, als produktives Mitglied der Gesellschaft. Und das fällt mir nicht schwer. Faul sein dagegen, ist schon viel schwieriger.
Unsere Gesellschaft ist gerade dabei genau diese Fragen auszudiskutieren, auch für klassische Arbeitsverhältnisse. Es ist aber auch eine interessante Botschaft darin über das Grundeinkommen versteckt: Freiheit muss gelernt werden!
Grundeinkommen ist eine mögliche Hilfe, um den Kapitalismus (bzw. das Ideal von Leistung, Fleiß und Arbeiten am persönlichen Limit) im Kopf zu überwinden und eine Kultur zu entwickeln, in der wir uns selbst und uns gegenseitig erlauben können unsere Bedürfnisse richtig wahrzunehmen, zu erfüllen und mit einem richtig guten Gefühl Grenzen zu ziehen und Nein zu sagen. Und auf die Suche zu gehen nach dem, was dieses Glück wirklich ist. Und was passiert, wenn der Kapitalismus nicht mehr im Kopf ist. Und was DAS dann für eine neue Qualität von positiver Kreativität und Vitalität in uns schaffen könnte, das kann ich mir kaum vorstellen, so überwältigend muss das sein.