April 2017. Wir sitzen in einer unterkühlten Seminar-Scheune in Brandenburg und ringen um unsere Vision. Unser Projekt gibt es zu diesem Zeitpunkt seit drei Jahren. Rund zwanzig engagierte Menschen sind angetreten, um sich für eine Idee einzusetzen, die dieser Tage in ihrer Inspirationskraft fast konkurrenzlos ist: Das Bedingungslose Grundeinkommen. Wir stehen inmitten der digitalen und sozialen Revolution, der vielleicht grundlegendsten Veränderung in der Menschheitsgeschichte.
Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft? Die Antwort auf diese Frage wollen wir nicht dem Zufall überlassen.
Die ganze Welt im Umbruch
Oft zeigt sich der Umbruch verdeckt, als Anstrengung und Verunsicherung. Als das Gefühl, irgendwie nicht mehr hinterherzukommen. In E-Mails und Nachrichten berichtet ihr uns von euren Existenzsorgen, gesundheitlichen Leiden, euren Problemen am Arbeitsplatz. Auf Veranstaltungen erfahren wir von euch, wie lange ihr euch schon engagiert und dass ihr manchmal nicht mehr könnt oder wollt. Dass ihr euch unsicher seid, wie ihr die Zukunft meistern werdet und ihr euch oft alleine damit fühlt.
Der Wandel und seine Symptome sind auch im Weltgeschehen sichtbar. Wir sehen ihn jeden Tag in den Nachrichten, die berichten von frustrierten Mitmenschen, die ihren Frust an anderen entladen. Die berichten von täglich neuen technologischen Innovationen wie Robotern, künstlicher Intelligenz und Kryptowährungen, die wir noch nicht so 100% verstehen. Die berichten von Ungerechtigkeiten und ökologischen Problemen.
Umbruch heißt auch: Trotz des Fokus auf die Zukunft, ist die Vergangenheit noch lange nicht abgeschlossen. Inmitten des Chaos sehen wir uns mit den Konsequenzen unserer industrialisierten Wirtschaftsweise der letzten 200 Jahre konfrontiert: Dazu zählen ökologische Risiken, wie Artensterben und Klimawandel, die wir jetzt stoppen müssen. Dazu gehört auch das uneingelöste Versprechen der globalisierten Marktwirtschaft auf eine gerechte Verteilung von Ressourcen, Freiheit und Lebensqualität.
Es gibt Hoffnung
Wie gehen wir mit solchen sozialen, ökologischen, psychologischen Herausforderungen um? Wichtig ist zu wissen, wohin es gehen soll – und warum. Denn es gibt auch riesige Chancen.
In diesem Glauben werden wir immer wieder bestärkt, wenn wir in den Nachrichten von den Mutigen lesen, die sich weltweit jeden Tag für Mitmenschlichkeit einsetzen. Wenn ihr uns von euren Träumen, Wünschen und eurer Hoffnung erzählt. Und wenn wir mitbekommen, wie eure Augen leuchten, wenn ihr darüber nachdenkt: Was wäre eigentlich, wenn ich Grundeinkommen hätte? Dann strahlt die Zukunft stärker, als die Vergangenheit wiegt und wir wissen: Wir sind auf einem guten Weg.
Brauchen wir eine gemeinsame Vision?
Wir sind die Kinder der Postmoderne. Das heißt, die Kinder einer Zeit, in der alles, wirklich alles, hinterfragt wird. In der sich der Anspruch auf eine allgemeingültige Interpretation der Wirklichkeit so gut wie aufgelöst hat. Politische Einstellungen, Wahrheit und Unwahrheit, Richtig und Falsch, Familienmodelle und Lebensentwürfe, Geschlecht und Sexualität – alles steht zur Debatte. Es ist nicht leicht, die Orientierung zu behalten.
Auch bei uns im Team ist die Verunsicherung jeden Tag präsent. Zwischenzeitlich wollten wir gar keine Vision aufschreiben. Es fällt uns schwer, uns auf etwas Konkretes festzulegen und gleichzeitig groß zu denken. Was ist, wenn wir falsch liegen?
Dabei wissen wir eigentlich genau was wir wollen. Nur in unseren Köpfen ist eine mächtige Schranke. Vielleicht, weil wir als Träumer*innen oft belächelt worden sind. Weil wir uns angesprochen fühlten, als man sagte: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Weil “die Welt nun mal so ist”. Weil es in über drei Jahrzehnten Neoliberalisierung am Ende meist nur um den “Wirtschaftsstandort Deutschland” zu gehen scheint – und alles andere dafür als Mittel zum Zweck behandelt wird.
Mit einer Vision navigieren wir die unbekannte Zukunft
Wir sind keine Inseln. Wir brauchen einander! Deshalb müssen wir mutig und wohlwollend miteinander reden. Unsere Gespräche sind der Ort, in denen die Zukunft verhandelt wird. Diese Gespräche sind das Herz der Demokratie.
Eine Vision ist dafür ein Kompass. Eine Vorstellung, die die Zukunft mit Ideen füllt! Je bewusster wir uns sind, wo wir hinwollen, desto zielstrebiger können wir handeln. Umso leichter lässt sich dafür streiten.
Wie sieht unser Kompass aus? Zwei Tage verhandeln wir als Team. Am Ende ist noch eine halbe Stunde Zeit und wir haben kaum etwas Brauchbares zu Papier gebracht. Unsere Prozessbegleiterin teilt uns in kleine Gruppen auf und gibt uns die Aufgabe, einen Vorschlag zu verfassen. In unserer Kleingruppe fragt jemand: Wie sieht denn die Welt aus, in der ihr wirklich, wirklich, wirklich leben wollt? Wie fühlt sie sich an, wenn wir erfolgreich sind?
Dann beginnt unser Entwurf aufs Papier zu fließen.
Wir wollen eine Gesellschaft, die sich für alle gut anfühlen kann. Wir wollen, dass es ein Bedingungsloses Grundeinkommen für alle Menschen gibt. Wir wollen, dass sich Menschen frei entfalten können.
Wir wollen Frieden, keine Gewalt, keinen Druck, keine Hetze, Lockerheit, Leichtigkeit, eine kunterbunte Gesellschaft und Raum für Neugierde. Alles, was man braucht, kann man einfach bekommen. Bedingungslos.
Wir vertrauen uns selbst und uns gegenseitig. Wir spüren uns selbst und fühlen uns stark. Wir haben Wertschätzung für uns und unsere Umwelt. Es gibt Pluralität und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung jenseits der Verwertungslogik. Wir haben Urvertrauen und Vertrauen in die Zukunft. Wir wollen flexible Kontinuität und die Freiheit vom Zwang, Menschen zu unterdrücken.
Alles ist liquide und dezentral und wir akzeptieren den freien Fall als Staubkörnchen im Universum. Wir wollen Menschlichkeit und echtes Gefühl. Wir wollen die Digitalisierung – aber ohne Faschismus.
Wir kooperieren! Wir überwinden den Homo Oeconomicus und jede*r fühlt sich unterstützt und geborgen. Freiheit bedeutet für uns, mit anderen in Beziehung treten zu können, Interdependenzen wertzuschätzen und als Chance zu verstehen.
Wir sind uns unserer eigenen Freiheit und der der anderen bewusst. Alle Lebewesen und unsere Umwelt haben ein geiles Leben. Es gibt Raum zum Spielen, Kreieren und Unsinn machen.
Das ist das Ziel und wir sind das Labor.
Am Ende keine Diskussion. Allgemeine Zustimmung. Unser Kompass auf Papier. Damit gehen wir in die nächste Verhandlungsrunde über diese Revolution und unsere gemeinsame Zukunft.
Was bewegt euch, was ist eure Vision? Wie soll die Welt in 20, 30, 50 Jahren aussehen? Wo müssen wir noch mutiger werden, was können wir noch lernen, welche Kompromisse werden wir schließen? Traut euch, mit uns zu träumen. Lasst uns das Gespräch beginnen!