Vor fast genau einem Jahr veränderte eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) die Debatte um das Grundeinkommen grundlegend. Wir blicken zurück auf ein Jahr der Erkenntnisse.
Was. Für. Ein. Jahr.
Oder? "Wie bitte, welches Jahr", fragst du dich nun vielleicht, "ist denn schon wieder Weihnachten?!" Glücklicherweise nicht – aber es ist nun ziemlich genau ein Jahr her, dass eine Nachricht die Debatte über das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) für immer veränderte:
Es ist finanzierbar! Und das war ja sogar wirklich ein bisschen wie Geburtstag und Weihnachten zusammen…
Im August 2023 nämlich zeigte uns das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gleich mehrere Finanzierungswege auf, die der Killerphrase "Das ist doch unbezahlbar" endlich den Garaus machte.
Über diese verschiedenen Wege könnte also in einem Aufwasch das Grundeinkommen für alle eingeführt – und das Gespenst der extremen finanziellen Ungleichheit beseitigt werden, das seit Jahren vermehrt sein Unwesen in unserer Gesellschaft treibt.
Ein Steuerausgleich, nämlich, macht es möglich. Wie genau, das veranschaulicht seither unser interaktiver Grundeinkommensrechner, mit dem ein jeder Mensch höchst selbst Staat spielen – und nach Herzenslust Steuern einführen und wieder absägen, Sozialleistungen einsparen und Steuerprivilegien streichen darf.
Grundeinkommen für alle? Das geht!
Mit unserem Rechner kannst du selbst der Staat sein, der das Grundeinkommen einführt. Probiere es einfach mal aus!
Im vergangenen Jahr haben wir mit euch dann sehr (sehr) viel über das BGE gesprochen. Sachlich und konstruktiv, aber vor allem: auf nackten Tatsachen beruhend. Wir sind zusammen der Frage auf den Grund gegangen, ob und wie das Bedingungslose Grundeinkommen die drängendsten Fragen unserer Zeit beantworten kann, und wie wohl eine Welt mit BGE aussehen würde.
Bürgergeld? Eigentlich Grundeinkommen – oder doch nicht?
Dann ist ja jetzt alles gut, oder? Spätestens nach der nächsten Bundestagswahl wird das Grundeinkommen endlich Realität und das Team von Mein Grundeinkommen kann sich der nächsten großen Aufgabe zuwenden. Aber, ach: Pustekuchen.
Denn die Gegner*innen sozialer Gerechtigkeit konnten wir leider nicht sämtlich überzeugen. In der Zwischenzeit wurde das BGE "da draußen" deshalb aufs Übelste instrumentalisiert und auf eine Art "noch schlimmeres Bürgergeld" reduziert. Einige Beispiele gefällig?
"Der Lohnabstand und damit der Arbeitsanreiz werden zum 1. Januar zudem größer werden. Beim Bürgergeld erwarten wir für das kommende Jahr nämlich eine Nullrunde, während es für die arbeitende Bevölkerung spürbare steuerliche Entlastungen geben wird."
Alles übers Grundeinkommen – direkt in dein Postfach!
Während die Politik das Grundeinkommen zum Feindbild umdeutet, dabei jedoch andere Antworten zu den großen aktuellen Streitthemen schuldig bleibt, könnte sie sich auch intensiver damit auseinandersetzen, was das Grundeinkommen alles kann – und würde feststellen, dass die Antworten direkt vor ihrer Nase liegen.
Armut und Existenzangst? Eigentlich lösbar!
Kein anderes Thema treibt gerade so viele Menschen um wie die wachsende Existenzangst: Nach knapp zwei Jahren mit enormer Inflation haben wir spürbar weniger Geld in der Tasche. Jede*r Sechste in Deutschland ist arm, oft genug trotz Arbeit. Aber selbst, wer gegenwärtig davon nicht betroffen ist, macht sich ernste Sorgen um die eigene finanzielle Sicherheit in der Zukunft.
Die reale Armut hat nicht nur dramatische Folgen für die Betroffenen, sondern erzeugt auch Folgekosten für unsere Gesellschaft als Ganzes: Armut macht krank, führt zu schlechteren Bildungschancen und explodierenden Etats für Sozialleistungen im Haushalt. Allein das wäre doch ein guter Grund, schleunigst nach Auswegen aus der Armutsfalle zu suchen, oder?
Das empfundene Armutsrisiko in unseren Köpfen wirkt ebenfalls auf die ganze Gesellschaft: Es erzeugt eine wachsende Unzufriedenheit mit dem politischen System, das seinen Bürger*innen keine soziale Sicherheit mehr versprechen kann: "Mehr Engagement gegen Armut ist auch notwendig, um die Gesellschaft zusammenzuhalten", schrieb Bettina Kohlrausch schon vor zwei Jahren im Armutsbericht der Böckler-Stiftung, die sie leitet.
Ihre Forderung ist seitdem nur noch dringender geworden. Die jüngsten Wahlergebnisse und die aufgeheizte Stimmung im Land belegen das. Ist nicht spätestens die sich abzeichnende Demokratiekrise der Moment, in dem wir endlich mehr Offenheit für ganz neue Ideen gegen Armut brauchen?
Mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen könnten sofort 83 Prozent aller Menschen mehr Geld in der Tasche haben als heute. Weitere sieben Prozent, fast am oberen Ende, hätten genauso viel wie heute. Nur die wohlhabendsten zehn Prozent, die sich das locker leisten können, würden über Steuern unterm Strich draufzahlen. So könnte das Grundeinkommen die reale Armut mehr als halbieren und die empfundene Existenzangst durch soziale Sicherheit ersetzen.
Das Grundeinkommen würde mit seiner automatischen Auszahlung an alle sogar den hunderttausenden Menschen gezielt helfen, die in verdeckter Armut leben. Sie haben Anspruch auf soziale Leistungen, verzichten aber darauf – auch weil sie gerade häufiger als Faule und Schmarotzer*innen verleumdet werden denn je. Womit wir beim nächsten Punkt wären…
Aber es ist auch realitätsfern, weil es das eigentliche Problem bewusst ignoriert: Europas größten Niedriglohnsektor, der für Beschäftigte wie eine Sackgasse wirkt – und aktuell knapp 800.000 Menschen so wenig Lohn auszahlt, dass sie trotz Arbeit mit Bürgergeld aufstocken müssen.
Wer es ernst meint mit dem so genannten Lohnabstandsgebot, kommt mit Scheindebatten über "Totalverweigerer" und alle anderen Menschen im Bürgergeld, denen es angeblich viel zu gut geht, nicht weiter. Aber womit dann?
Ein Bedingungsloses Grundeinkommen für alle könnte solche Scheindebatten schnell beenden: Dadurch wäre erstmals sichergestellt, dass wirklich alle, die zusätzlich zu ihrem Grundeinkommen einer Erwerbsarbeit nachgehen, mit ihrem Einkommen plus Grundeinkommen garantiert immer mehr Geld zur Verfügung haben als diejenigen, die "nur" das Grundeinkommen erhalten.
Würde das Klotzen statt Kürzen beim Sozialstaat aber nicht eine gigantische Steuererhöhung bedeuten? Ja und nein…
Alle Forderungen nach Kürzungen beim Sozialstaat wehren die Teile der Bundesregierung, die nicht FDP heißen, bisher noch erfolgreich ab. Gleichzeitig lehnt der FDP-Finanzminister Christian Lindner aber eine Reform (oder gar das Aussetzen) der Schuldenbremse ab.
Und Steuererhöhungen scheinen ohnehin kein Thema, weil sie die schwache Konjunktur weiter abwürgen würden. Wie aber soll so genug Geld für den nächsten Haushalt zusammenkommen?
"Angesichts von fast einer Billion Euro Staatseinnahmen jährlich brauchen wir nicht mehr Geld, sondern mehr Mut", sagte Lindner vor kurzem in einem Interview. Es kommt nicht oft vor, aber in diesem Punkt stimmen wir dem Finanzminister mal uneingeschränkt zu!
Unsere Sozialpolitik braucht jetzt den Mut, mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen in jeden Menschen in diesem Land zu investieren. Obwohl das Grundeinkommen für alle nur mit massiven Steuererhöhungen finanzierbar wäre, müsste es eigentlich sogar Christian Lindner gefallen – weil diese theoretische Steuererhöhung für die meisten Menschen eine praktische Steuersenkung wäre. Klingt paradox, stimmt aber!
Ein durchfinanziertes Grundeinkommen, wie wir es seit letztem September vorschlagen, wäre trotz seiner Finanzierung über Steuererhöhungen tatsächlich eine noch nie dagewesene Steuererleichterung. Denn die allermeisten Menschen würden so viel Grundeinkommen erhalten, dass sie trotz höherer Steuersätze unterm Strich weniger Steuern zahlen würden als heute.
Hinzu kommt, dass die antragslose Auszahlung an alle Menschen dem Bundeshaushalt bis zu 7,4 Milliarden Euro Verwaltungskosten sparen würde. Steuersenkungen und Bürokratieabbau in einem – was hält den Finanzminister eigentlich davon ab, ein Grundeinkommens-Ultra-Fan zu werden?! Ist natürlich nur eine rhetorische Frage.
DIe Konjunkturflaute? Eigentlich erledigt!
Wir probieren es trotzdem weiter, die Politik davon zu überzeugen, dass das Bedingungslose Grundeinkommen bei so einigen aktuellen Streitthemen Abhilfe schaffen könnte. Sogar für die schwächelnde Wirtschaft.
Die anhaltende Wirtschaftskrise hat viele Ursachen: die vorübergehend gestiegenen Energiekosten und die Inflation in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, den Fachkräftemangel, die bröckelnde Infrastruktur, die Zurückhaltung bei Investitionen in unsicheren Zeiten wie diesen…
Ein Grund, der oft im Schlepptau der anderen daherkommt, ist die abnehmende Kaufkraft. Wenn alles immer teurer wird, können wir weniger kaufen. Auch, wenn das nicht alle grundsätzlich schlecht finden – für das im gegenwärtigen System nötige Wachstum unserer Wirtschaft ist weniger Konsum keine gute Nachricht.
Dabei verstärkt die derzeitige Krise nur, was in sozial ungerechten Gesellschaften immer gilt: Einkommensungleichheit ist Gift für die Konsumnachfrage, und zwar an beiden Enden der Einkommensskala: Wer sein Geld zum Überleben braucht, konsumiert nur noch das Nötigste. Wer mehr Geld hat als man ausgeben kann, lässt es oft nahezu unangetastet auf der Bank liegen – wo es sich zwar vermehrt, aber die Konjunktur auch nicht ankurbelt.
Das Bedingungslose Grundeinkommen würde hier wie ein Konjunkturmotor wirken: Die 83 Prozent von uns, die mehr Geld hätten als ohne Grundeinkommen, würden vermutlich einen Teil davon für Konsum ausgeben. Und das auch noch nachhaltiger und bewusster. Die zehn Prozent der Reichsten, die das Grundeinkommen über Steuern finanzieren würden, hätten weniger Geld auf der Bank.
Unser Grundeinkommensrechner auf Basis der Finanzierungsstudie des DIW Berlin hat diesen Konjunktureffekt zum ersten Mal beziffern können: Mit der Einführung eines Grundeinkommens für alle würde die Konsumnachfrage um knapp 12% steigen, weil gerade die Menschen mehr Geld hätten, die es wirklich ausgeben.
Gender-Verbote? Eigentlich am Thema vorbei!
Die wenigsten Entscheider*innen in Politik und Gesellschaft haben schon erkannt, welche Antworten das Bedingungslose Grundeinkommen bei den großen Streitfragen unserer Zeit geben kann – oder sie wollen sie nicht wahrhaben. Manche lenken auch lieber ab, um nicht Gefahr zu laufen, sich überzeugen lassen zu müssen. Im schlimmsten Fall ruft jemand "Gender-Gaga!", spätestens dann ist jede sachliche Debatte erledigt. Apropos…
Echte Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, biologischen und sozialen, geht nicht ohne Gerechtigkeit bei Einkommen und Vermögen. Die Lücke, die hier zwischen Männern und Frauen sowie nicht-binären Personen klafft, ist noch immer riesengroß. Frauen sind eher armutsgefährdet als Männer. Die Einkommenslücke aller Frauen – von der Hausfrau über die Berufstätige bis zur Rentnerin – beträgt im Schnitt 61% gegenüber allen Männern.
Unser Grundeinkommensrechner zeigt: Diese Lücke würde sich mit der Einführung eines finanzierbaren Grundeinkommens um fast die Hälfte reduzieren. Das könnte die finanzielle Abhängigkeit der Frauen von Männern drastisch reduzieren.
Das Bedingungslose Grundeinkommen stellt natürlich nicht im Alleingang völlige Geschlechtergerechtigkeit her. Dazu braucht es viele andere Maßnahmen, die nicht alle mit Geld zu tun haben: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Anerkennung und Umverteilung unbezahlter Sorgearbeit, Gerechtigkeit im Steuer- und Sozialrecht und viele mehr.
Aber es wäre ein wichtiger erster Schritt. Was hingegen gar nicht hilft, sind sinnlose Kulturkämpfe. Sowas wie das bayerische Gender-Verbot. Das ist einfach nur "gaga".
Gut, immerhin den Rentner*innen dieses Landes geht es in der Zwischenzeit ja besser. Denn als großes – und damit mächtiges – Wähler*innensegment, sind diese natürlich von großem Interesse für die Politik.
So gab es passenderweise eben erst eine Rentenanpassung: Die fiel tatsächlich höher aus als die Inflation, zudem hat sich das Niveau der Renten in Ost und West (über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung) angeglichen. Nur leider stieg die Zahl der Rentner*innen in Grundsicherung zuvor auch über Jahre auf ein Rekordhoch.
Um Altersarmut wirklich etwas entgegenzuhalten, wären "deutlich verbesserte Mindestsicherungselemente in der Gesetzlichen Rentenversicherung zwingend erforderlich," so die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft(ver.di).
Würden Parteien das Grundeinkommen in ihre Wahlprogramme aufnehmen, könnten sie diese Wähler*innen weiterhin – und sogar besser – erreichen, denn: Auch 92 % aller Rentner*innen würden von der Einführung des BGE profitieren.
Demokratiekrise? Eigentlich vermeidbar!
Apropos Wahlen: Die Europawahlen im Juni haben uns ja bereits deutlich gezeigt, mit welchen Ergebnissen wir für die anstehenden Landtagswahlen im Osten der Republik rechnen dürfen – und damit auch, gegen welche populistischen Übel es im Voraus der Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg anzukämpfen gilt.
Statt hässlicher Debatten über Migration, anstelle von Hass und Hetze brauchen wir nun treffsichere Maßnahmen, unsere Demokratie zu schützen und die Gesellschaft davor zu bewahren, noch weiter auseinanderzufallen.
Es wird immer deutlicher, wie sehr unsere Gesellschaft unter Druck steht. Was braucht es jetzt für mehr sozialen Zusammenhalt?
Was vor uns liegt, macht das Bedingungslose Grundeinkommen relevanter denn je, ist es doch der Schlüssel, endlich die Angst zu überwinden.
Wenn du also wie wir lieber wissenschaftlichen Studien glaubst, statt Christian Lindners Bauchgefühl, und weißt: Extreme Sparpolitik fördert die extreme Rechte – dann mach dich jetzt dafür stark, dass dein*e Abgeordnete*r sich für die Maßnahmen der Stunde einsetzt.
Denn: Der Kraftakt, den wir bei Mein Grundeinkommen seit einem Jahr betreiben, um allen zu zeigen, dass – und wie – das Grundeinkommen für alle finanzierbar ist, hatte stets vor allem eines zum Ziel: dass wir uns nun endlich voll und ganz der Wirkung des BGE auf Mensch und Gesellschaft widmen können.
Wir haben mit dem Grundeinkommen ein sehr wirkmächtiges Instrument gegen den Rechtsruck in der Hand. Du siehst das, wir sehen das. Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, dass auch die Politik nicht länger die Augen verschließen kann.
Was glaubst du: Was braucht es jetzt, damit wir als Gesellschaft wieder stärker zusammenwachsen? Wir freuen uns über deine Meinung hier in den Kommentaren!
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