Können wir alles schaffen, wenn wir uns nur genug anstrengen? Oder bestimmen unsere Herkunft, Bildung und das Geld unserer Eltern, wie weit wir es bringen? Junge Menschen probieren in einem Experiment aus, welche Startchancen ins Leben sie wirklich haben. Franzi hat sie dabei begleitet.
24 Schüler*innen, zehn Flöße, ein Fluss, den es zu überqueren gilt. In zwei Teams aufgeteilt steht die Schulklasse an gegenüberliegenden Ufern. Sie hat eine Aufgabe: Beide Teams müssen die jeweils andere Seite erreichen – ohne in den Fluss zu fallen. Wenn das nur einem Menschen passiert, muss das ganze Team wieder zurück ans Ufer. Welche Gruppe ist zuerst am Ziel?
Der Fluss ist eigentlich ein heller Raum in Berlin-Neukölln, die Flöße sind Zeitungsblätter auf dem Boden. Die Schüler*innen diskutieren von beiden Seiten fieberhaft über die richtige Strategie: “Stopp, so geht das nicht!”, “Da müssen mehr drauf!”, “Warte, komm zurück!”.
Zu dritt stehen sie auf einer Doppelseite, halten sich gegenseitig fest und helfen sich beim Springen von Zeitungsblatt zu Zeitungsblatt. Für mich als Zuschauerin ist schnell klar, wie die Teams erfolgreich und ohne Verluste zum anderen Ufern kommen: Indem sie miteinander sprechen, aufeinander achten, jede*n aus der Gruppe mitnehmen.
An diesem Nachmittag geht es genau darum: Gemeinsam herauszufinden, wie wir alle an unser Ziel kommen – und zu reflektieren, welche Chancen, Hürden und Grenzen es dabei gibt. Nicht nur in diesem Spiel – sondern draußen, im echten Leben.
Die Schüler*innen, die sich hier ihren Weg über den Fluss und durchs Leben bahnen, gehen aufs Gymnasium. Wahrscheinlich werden die meisten von ihnen Abitur machen – aber nicht jedes Kind hat diese Chance auf eine gute Bildung. Ist ihnen bewusst, wie unterschiedlich die Startchancen ins Leben sein können? Wir finden es gemeinsam heraus.
Für unseren Chancen-Check stellen sich die Schüler*innen zuerst mit geschlossenen Augen in einer Reihe im Raum auf. Nacheinander liest Claire, die das Experiment leitet, unterschiedliche Aussagen aus dem Alltag vor. Wenn diese auf ihr eigenes Leben zutreffen, dürfen die Schüler*innen einen Schritt machen – entweder vor oder zurück.
Die Schulklasse: Den Chancen-Check hat die ehemalige 9b des Thomas-Morus-Gymnasiums im westfälischen Oelde für uns ausprobiert. Die 24 Schüler*innen haben unser Lernmaterial Grundeinkommen macht Schule im Unterricht durchgenommen – und dann den begleitenden Wettbewerb gewonnen. Ihr Gewinn: Eine Klassenfahrt nach Berlin und die Chance, bei der Verlosung am 26. Oktober selbst am Glücksrad zu drehen.
“Mach einen Schritt nach vorne, wenn deine Eltern immer für Ausflüge oder Klassenfahrten zahlen können”, beginnt Claire. “Mache einen Schritt nach vorne, wenn du bei Schwierigkeiten mit deinen Hausaufgaben immer deine Eltern um Hilfe bitten kannst.” Oder: “Gehe einen Schritt zurück, wenn deine Familie aus finanziellen Gründen schon einmal umziehen musste.”
Nach zehn Aussagen und zehn Chancen, vorwärts oder rückwärts zu gehen, ist das Bild durchmischt: Während manche Schüler*innen fast an der gegenüberliegenden Wand des Raumes angekommen sind, stehen einige wenige hinter ihnen. Ich frage mich, was das Experiment mit den Schüler*innen macht. Was war es für ein Gefühl, einen Schritt vorzugehen oder eben zurückbleiben zu müssen?
“Die Übung ist dazu da, um uns klarzumachen, wie gut es uns geht”, sagt ein Schüler. “Wir haben einen gesellschaftlichen und sozialen Vorteil – also Vorteile, die wir durch unsere Geburt bekommen, zum Beispiel ein reiches Elternhaus.” In der weiteren Diskussion kommt die Klasse zu dem Schluss: “Der Vorsprung bezieht sich nicht nur auf das Geld der Eltern, sondern auf die gesamte Ausgangslage. Das sind Privilegien. Privilegierte Leute sind eine Stufe höher in der Gesellschaft.”
Ich höre ihnen zu und habe das Gefühl, nicht nur für mich, sondern auch für die Schüler*innen wird in diesem Moment etwas buchstäblich sichtbar: Für manche Personen ist es einfacher und für andere viel schwerer, dasselbe Ziel zu erreichen. Unsere Startchancen sind ungleich verteilt: Wer in Armut aufwächst, hat eine schlechtere Ausgangsposition – für den Rest des Lebens.
Deswegen schlüpfen die Schüler*innen in der letzten Übung an diesem Nachmittag in die Rolle von Politiker*innen von morgen, die Maßnahmen für eine gerechte Welt entwickeln sollen. Ihre Vorschläge machen mir Hoffnung: Demokratisierung der ganzen Welt, stärkere Aufklärung über Stigmata, unbegrenzte Mobilität für jede*n und ein Bedingungsloses Grundeinkommen für alle.
Was denkst du? Wie steht es um deine eigenen Chancen? Und kann ein Bedingungsloses Grundeinkommen helfen, Kinderarmut zu beseitigen? Schreib es uns in die Kommentare!
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