Vier Wochen lang sind wir kreuz und quer durch Sachsen gereist, um vor Ort über soziale Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt zu sprechen und zu streiten. Was haben wir erlebt? Was haben wir gelernt? Und was denken die Sachsen wirklich über das Grundeinkommen? Ein Reisetagebuch in Bildern und Videos.
Blanke Nerven vor der Premiere
Noch auf dem Weg zur ersten Station unserer Sachsenreise feilen Christina und Volker an den Fakten, Zahlen und Argumenten, die wir am Abend in Delitzsch vorstellen wollen. Wir sind einigermaßen nervös: Haben wir die Antworten im Gepäck, die vor Ort wirklich interessieren? Wird die Debatte in der Stadtbibliothek so kontrovers wie die Meinung der Sachsen zum Grundeinkommen insgesamt?
Wo sind die ganzen Vorurteile hin?
Wir sind es gewohnt, ausführlich über typische Vorurteile wie "Mit Grundeinkommen werden alle faul!" oder "Das ist nicht finanzierbar!" zu diskutieren. Auch in Delitzsch kommen diese Themen auf – sind aber schnell abgehakt.
Was die Menschen vor allem wissen wollen: Welche Lebensentscheidungen treffen Menschen mit Grundeinkommen? Werden sie gesünder? Und zufriedener? Das überrascht uns. Verändert sich hier vor unseren Augen, wie das Land über das Bedingungslose Grundeinkommen nachdenkt?
"Lasst uns doch mal über die Chancen reden!"
Richtig spannend wird es für uns, wenn skeptische und überzeugte Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Im voll besetzten Kulturzentrum in Görlitz kreist die Debatte lange um die Frage, ob die Politik überhaupt handlungsfähig genug sei, eine so große Veränderung wie ein Bedingungsloses Grundeinkommen für alle umzusetzen.
Maria, eine unserer 55 Gewinner*innen aus Sachsen, nimmt sich das Mikro und ermuntert den Saal, die Chancen des Grundeinkommens nicht aus dem Blick zu verlieren: "Ich hätte die Hoffnung, dass viel mehr Leute freier mit sich und ihrer Zeit umgehen würden. Ob ein Grundeinkommen dafür reicht? Wahrscheinlich nicht. Aber es gibt einen Anstoß, dass man in eine neue Richtung denken kann."
Jede Stimme zählt
Unsere Praxisforschung macht auch unterwegs in Sachsen keine Pause. Vereinsgründer Micha und Johanna, die Expertin für Daten und Wirkungsforschung in unserem Team, stehen in Görlitz und Radeberg mit einem Tablet an der Saaltür und bitten die Menschen vor und nach der Diskussion um ihre Meinung.
Wir wollen wissen: Kann sich die Einstellung zum Grundeinkommen in zwei Stunden verändern? Das Ergebnis: Ein paar Wenige ändern tatsächlich ihre Meinung – dass es nicht mehr sind, könnte aber auch daran liegen, dass wir an allen Orten unserer Sachsenreise auf mehr bereits überzeugte als ablehnende Menschen treffen.
Den Strukturwandel gestalten
Wir sprechen über alles, überall in Sachsen. Aber bei unseren Abenden in der Lausitz fällt ein Stichwort häufiger als irgendwo sonst: der Strukturwandel. Während unserer Reise haben wir Menschen von hier gefragt, wie sie dafür kämpfen, dass aus dem Ende der Braunkohle ein neuer Anfang für ihre Region werden kann – und wie das Grundeinkommen dabei helfen könnte. Daraus entstand diese Reportage.
Aber was heißt eigentlich dieser sperrige Begriff Strukturwandel? Was richtet er im Leben der Menschen an? In diesem Interview erzählt uns der Görlitzer Autor Lukas Rietzschel, wie er seine Heimat zwischen Resignation und Aufbruch erlebt: "In Sachsen gibt es viele Ideen – aber die Politik muss mutiger werden."
Alles hängt mit allem zusammen
Die Sozialwissenschaftlerin Franziska Stölzel verknüpft im Gespräch mit uns den Strukturwandel mit dem schwindenden Vertrauen in die Demokratie: "Görlitz, wo ich lebe, ist einer der Landkreise, die am meisten vom Strukturwandel und Kohleausstieg betroffen sind. Er steht im Vergleich der Netto-Einkommen in Deutschland mit ganz unten", erzählt sie uns bei unserem Abend in Weißwasser.
Das Grundeinkommen, glaubt Franziska, "könnte hier einen wirklich großen Unterschied machen, ob und wie sich Menschen politisch, aber auch sozial engagieren. Ob sie wählen gehen oder sich an Projekten beteiligen, die zur Demokratiebildung beitragen." Eine neue Analyse des Grundeinkommens-Praxistests in Finnland bestätigt Franziskas Annahme erst vor wenigen Tagen.
Die neue Lust auf Ehrenamt und Politik
Könnte ein Grundeinkommen für alle die Lust auf Ehrenamt und auf politische Teilhabe wieder steigern? Bei der Verlosung in Dresden unterstützt unser Gewinner Paul diesen Zusammenhang. Er schreibt momentan an seiner Doktorarbeit zum Rechtspopulismus in der Oberlausitz – was das Grundeinkommen ihm nebenbei zumindest ein Jahr lang deutlich erleichtert.
Paul erklärt uns auf der Bühne vor der Frauenkirche: "Die Oberlausitz und generell der ländliche Raum in Ostdeutschland haben nach der Wende einen tiefgreifenden Transformationsprozess erlebt. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen Angst haben, dass sich das jetzt wiederholt durch den Strukturwandel, aber auch den demografischen Wandel. Das ist ein Punkt, an dem rechtspopulistische Erzählungen anknüpfen können."
Das Grundeinkommen könne den Menschen diese andauernde Angst nehmen, indem es ihnen sage: "Hey, wir sind als Gesellschaft für dich da, wir fangen dich auf." Paul wünscht sich, dass viel mehr Menschen seine Erfahrung mit dem Grundeinkommen teilen könnten. Er ist überzeugt: "Relativ viele Menschen würden sich engagieren, sich einbringen, ihre Umwelt mitgestalten, weil das einfach ihr Bedürfnis ist."
Wo müssen wir eigentlich hin?
Was kann schon schiefgehen bei so einer Reise? Eine ganze Menge, wie sich herausstellt: Volker verpasst gleich zu Beginn seinen Zug nach Sachsen. Micha bleibt in Dresden im Stau der Dynamo-Fans stecken. In Zwickau streikt die Technik, so dass Christina ihre mitgebrachten Porträts von Gewinner*innen spontan aus dem Kopf nacherzählen muss. Und manchmal ist der Weg vom Bahnhof zum Veranstaltungsort einfach etwas komplizierter als gedacht. Dann hilft nur noch der Stadtplan auf dem Handy weiter. Am Ende sind wir immer pünktlich gewesen. Und nur das zählt.
Endlich wieder echte Gespräche
Wir merken auf unserer Reise, wie sehr uns in den letzten zwei Jahren der persönliche Austausch gefehlt hat. Wieder mit den Menschen vor Ort diskutieren zu können, erzeugt eine Nähe zu ihren Fragen, Ideen und Zweifeln zum Bedingungslosen Grundeinkommen, die ein digitales Gespräch von Bildschirm zu Bildschirm nie erreicht.
Liegt es auch daran, dass wir uns in Torgau wie in allen anderen Orten nach dem offiziellen Teil noch in sehr persönlichen Gesprächen verlieren? Wir sind dankbar für alle diese Begegnungen und die Argumente für und gegen das Grundeinkommen, die wir mitnehmen.
Mensch, ist das schön hier!
Sachsen ist schön. Das wussten wir schon, schließlich stammen einige aus dem Mein Grundeinkommen-Team von hier. Was auch für uns neu ist, sind die vielen offenen, lebendigen Veranstaltungsorte, die uns zu sich eingeladen haben. In allen Volkshochschulen werden wir sehr herzlich empfangen. Besonders gut gefällt es uns aber in der gemütlichen Stadtbibliothek in Delitzsch, im Kulturzentrum "Rabryka" in Görlitz und in der Hafenstube "Telux" in Weißwasser, aus der wir dieses Video mitgebracht haben.
Fünf Probleme in zwei Minuten
Unserer Gewinnerin Anna aus Hartha bei Dresden fallen in weniger als zwei Minuten gleich fünf Probleme ein, die ein Bedingungsloses Grundeinkommen nicht nur in Sachsen lösen helfen könnte: das Ost-West-Denken in vielen Köpfen, die Abhängigkeit von den Arbeitsplätzen in der fossilen Brennstoffindustrie, die Überalterung der Gesellschaft und Bedarf an gut bezahlten Menschen in der Alterspflege, aber auch die Niedriglöhne für Menschen am Anfang ihres Berufslebens.
"Ich glaube, dass es nötig ist, das Bedingungslose Grundeinkommen in einem großen Rahmen zu erforschen", sagt uns Anna, "damit möglichst viele Menschen davon erfahren können, wie es sich anfühlt." Auch diesen Rückhalt für unsere Forschung nehmen wir gerne mit aus Sachsen.
1.000 Gespräche über 1.000 Euro
Seien wir ehrlich: Wir haben nicht mitgezählt, wie viele Gespräche wir exakt auf dem Dresdner Neumarkt geführt haben. Aber es waren etliche. Am Nachmittag vor der großen Live-Verlosung kommt fast unser gesamtes Team nach Dresden, streift sich die blauen T-Shirts über und spricht alle Menschen an, die rund um die Frauenkirche unterwegs sind.
Wir laden sie ein, sich am Glücksrad ein "Was würdest du tun?"-Buch zu erdrehen oder noch spontan an der Verlosung am Abend teilzunehmen. Kirsten, Lukas und Doro haben wir bei ihren Gesprächen über das Grundeinkommen fotografiert. Über den Inhalt schweigen wir, nur so viel: Manchmal ging es ziemlich heiß her.
Das große Finale
Nach vier Wochen endet unsere Reise durch Sachsen mit der großen Live-Verlosung auf dem Neumarkt in Dresden. Lukas Rietzschel und unser Gewinner Paul aus Dresden verlosen am Glücksrad die nächsten 35 Grundeinkommen. Werden wieder ein paar Menschen aus Sachsen gewinnen?
Wer noch privatere Eindrücke von unterwegs sehen möchte, sollte übrigens ab Minute 9:30 im Video genau hinsehen. Das Finale unserer Sachsenreise feiern wir am Abend nach der Verlosung in der Dresdner Neustadt – davon gibt es allerdings keine Bilder...
Was denkst du? Haben die Menschen Recht, denen wir in Sachsen begegnet sind? Und in welche Region sollen wir nächstes Mal unbedingt reisen? Wir freuen uns auf deine Vorschläge!
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