Was braucht es für das gute Leben? Und wer ist dafür verantwortlich? Würdest du bleiben, wenn alle gehen? Die Menschen in den strukturschwachen Regionen Sachsens sehen sich schon heute mit existenziellen Fragen konfrontiert, die uns bald alle beschäftigen könnten. Das sind ihre Antworten.
Schon wieder "blühende Landschaften"?
“Nichts ist so beständig wie der Wandel”, sagt Heraklit. Nirgendwo weiß man das so gut wie in Sachsen. Und doch ist das Ausmaß der aktuellen Veränderungen nahezu beispiellos. Oft ist es der schleichende Prozess, der eine trügerische Sicherheit der Gewöhnung mit sich bringt, aber das festgeschriebene Ende der Braunkohlereviere ließ nicht mal diese Illusion zu. In vielen Regionen Sachsens ist es eindeutig: Hier ist etwas endgültig im Umbruch.
Der Teufelskreis ist altbekannt: Wegbrechen von bedeutenden Industrien, verödende Infrastruktur, fehlende Perspektiven, zunehmende Arbeitslosigkeit, Einwohnerrückgang, eine überalternde Bevölkerung. Ob in der Lausitz, im Vogtland, Südwestsachsen oder im mitteldeutschen Revier. Die Geschichten aus den “strukturschwachen Regionen” ähneln sich und wurden oft erzählt.
Wie aber begegnet man all dem? Wie bleibt eine Region lebenswert, der die wirtschaftliche Triebkraft und damit auch ein Stück ihrer Identität verloren geht? Die staatliche Antwort scheint bereits gefunden zu sein: Infrastrukturförderung in den Kommunen heißt das Stichwort. Denn wenn das Schlagloch zu ist, die Bushaltestelle renoviert wird, es Kitaplätze gibt und das Internet funktioniert, dann gibt es doch eigentlich keinen Grund woanders hinzugehen – so scheint die Annahme.
Eine Studie der Rosa Luxemburg Stiftung stellt allerdings fest, dass all diese Maßnahmen oft über die Köpfe der Menschen vor Ort hinweg getroffen und sie nur ungenügend in diesen Veränderungsprozess miteinbezogen werden. Lokale Potenziale scheinen ungenutzt zu bleiben. Aber was sagen die Menschen vor Ort selbst? Schließlich gibt es sie, die hoffnungsvollen, ideenreichen Engagierten, die ihre Heimat nicht einfach kampflos dem Schicksal der wirtschaftlichen Zeitenwende überlassen wollen.
Die Unbeugsamen
In Vereinen, Bürger*inneninitiativen und Netzwerken wird von Bürger*innenseite aktiv daran gearbeitet, den Strukturwandel mitzugestalten – lebenswerte Bedingungen und neue Perspektiven vor Ort zu schaffen. Auf ihren Websites wird die Not zur Tugend gemacht; den Städter*innen zugerufen, dass es hier auf dem Land noch Raum gibt, um Dinge anzupacken. Das Versprechen: In der Stadt ein anonymes Rad im Getriebe, in der Provinz ein*e Macher*in. Zieht das? Oder bleibt das Engagement vor Ort ein Kampf gegen Windmühlen?
Wir fragen nach bei Franziska Stölzel, die sich ganz bewusst entschieden hat, in der Lausitz zu bleiben. Die Sozialwissenschaftlerin bringt sich in verschiedenste zivilgesellschaftliche Projekte ein – von Politik über Nachhaltigkeit zu weiblichem Empowerment bis Unternehmertum – und sieht die entstehenden Leerstellen tatsächlich als Gestaltungsraum.
"Der Wandel kommt, ob man es will oder nicht. Wege, ihn zu gestalten, gibt es viele", sagt die 28-Jährige mit Blick auf ihre Heimat. "Für Menschen, die sich engagieren wollen, ist es super einfach. Es gibt so viele Sachen, an die man sich andocken kann. Egal worauf man Lust hat, man kann seine eigenen individuellen Ziele verfolgen."
Lust aufs Engagieren haben aber nicht alle. Eine der Haupt-Herausforderungen beschreibt Stölzel so: "Es gibt Generationskonflikte, Zeit- und Geduldskonflikte und es gibt vor allem Konflikte in dem, was man als Region vor Ort schaffen will und was attraktiv ist für junge Menschen. Rückkehrer*innen und Zuzügler*innen haben ganz tolle Ideen, die sie mitbringen, aber Menschen, die hier schon eine Weile sind, haben andere Prioritäten und nicht so den Gestaltungsdruck."
Das beobachtet Stölzel vor allem bei älteren Menschen, die durch DDR und Nachwendezeit geprägt sind: "Es gibt Menschen, die den Wandel und den Kohleausstieg ablehnen. Die bereits in den 90ern mitgemacht haben, wie alles den Bach runterging. Deswegen sind viele nicht offen für Neues und sehen auch keine Notwendigkeit sich zu engagieren, weil es aus ihrer Sicht sowieso keinen Fortschritt gibt."
Auch Autor Lukas Rietzschel erkennt diese Dynamik von historischen Nachwirkungen. Seiner Ansicht nach verläuft beim Thema Strukturwandel die Trennlinie aber weniger zwischen Ost und West als vielmehr zwischen Stadt und Land: "Auch in der westdeutschen Provinz haben Dörfer heute mit Überalterung, Strukturabbau und Abwanderung zu kämpfen. In vielen Regionen fehlt in der Pflege oder bei Lehrerinnen und Lehrern der Nachwuchs, weil die Jungen weggehen. Das ist ein gesamtdeutsches Problem."
Trotzdem sieht er drei Punkte, die den Strukturwandel in Sachsen besonders machen: 1. Das Ausmaß der kollektiven Arbeitslosigkeitserfahrung 2. Die Geschwindigkeit, in der sich der Wandel vollzieht 3. Die Beteiligung der Politik an diesem Prozess.
Letzteres betrifft gerade die Lausitz und das mitteldeutsche Revier. "Wo sich sonst Wirtschaft wandelt, ist die Politik selten beteiligt. Klar, es gibt immer irgendwelche Subventionen und Fördertöpfe. Aber hier wird innerhalb kürzester Zeit extrem viel Geld mobilisiert und in Prozesse gesteckt, von denen man sich etwas Zukunftsträchtiges verspricht", beobachtet Rietzschel.
Bei all der Aufmerksamkeit, die den Kohlerevieren bei diesem Thema zukommt, sollte man aber andere Regionen nicht aus dem Blick verlieren, meint Franziska Stölzel: "Mittel- und Südsachsen, das Erzgebirge, Chemnitz sind auch alles strukturschwache Regionen. Auch da merkt man, dass die Jugend und vor allem Frauen abwandern. Dass sich politische Gegebenheiten radikalisieren und verstärken. Da muss man ganz anders dran arbeiten."
Dana Künne-Schubert kommt aus einer dieser Regionen. Sie engagiert sich in Annaberg-Buchholz im lokalen Verein "Anna+Sascha", bei dem es um Inklusion und Begegnung geht. Gemeinschaft und ein geteiltes Miteinander sind für sie die Grundlage, um Projekte vor Ort anzustoßen und das Leben abseits von Arbeit lebenswerter zu machen.
Als Gewinnerin eines Grundeinkommens konnte sie sich ihrem Ehrenamt noch intensiver widmen und ihren Verein sogar finanziell unterstützen. Sie ist der Meinung, dass es zur Bewältigung des Strukturwandels vor allem junge, nach vorne denkende Menschen braucht und diese außerhalb der Ballungsgebiete besser eingebunden werden müssen. "Nur so kann die Infrastruktur überhaupt erhalten bleiben oder geschaffen werden", sagt sie.
Lukas Rietzschel ist selbst Ost-Rückkehrer und wünscht sich, dass viel mehr junge Menschen sich bewusst dazu entscheiden, zu bleiben und zu gestalten. Er kennt das Gefühl, wenn das eigene Umfeld verschwindet: "Die meisten anderen müssen dorthin gehen, wo die Jobs sind: Dresden, Leipzig, Berlin. Das ist wahnsinnig bitter, weil das hier nach wie vor in jedem Jahrgang passiert."
Nach seinem Studium in Kassel konnte sich der 28-Jährige auch nur in Görlitz niederlassen, weil der Erfolg seines ersten Buchs es zuließ. "Das ist ein Privileg, dessen ich mir sehr bewusst bin", sagt Rietzschel.
Wir waren einen Monat lang “Mittendrin In Sachsen” unterwegs, um vor Ort über das Grundeinkommen zu diskutieren. Was wir erlebt und gelernt haben, zeigen wir dir auf unserer Sachsen-Seite.
Aber wenn die jungen Menschen so wichtig sind, um den Wandel in bessere Bahnen zu lenken: Wie hält man sie dann? Ein Anfang wäre bei der Lohngerechtigkeit zu machen, sagt Franziska Stölzel. Aus ihrer Sicht könne es nicht sein, dass für die gleichen Jobs in den Ballungszentren fast das doppelte Gehalt gezahlt wird. Da sei die Abwanderung vorprogrammiert.
Auch die Frage nach langfristigen Alternativen für die Menschen aus wegbrechenden Industriezweigen drängt sich für sie auf: "Wir wissen nicht, wann der Kohleausstieg kommt und wie das jetzt genau passiert. Es gibt mehrere Möglichkeit für junge Menschen sich zu engagieren, aber es gibt für die Kohlemitarbeiter*innen kaum die Möglichkeit in ein neues, gut bezahltes Jobverhältnis zu wechseln."
Bedenklich findet Stölzel auch, dass der Eindruck entstehen könnte, den Lausitzer*innen etwas wegzunehmen, aber nichts Neues zu geben. Ihr Rat: "Man sollte jetzt auf die Menschen, die sich schlecht fühlen, weil sie ihre Identität verlieren, zugehen und ihnen Alternativen anbieten. Das wird in einer progressiven, aktiven Art nicht gemacht."
Bürgerschaftliches Engagement kommt bei diesen Fragen an seine Grenzen. So sehr Stölzel auch an die Kraft der Zivilgesellschaft zur Verbesserung der Lage in Sachsen glaubt, sieht sie auch Dinge, die sie nicht leisten kann: "Gesundheit- und Sozialleistungen können einfach manchmal nicht abgedeckt werden, weil wir nicht genug Menschen haben. Das ist natürlich eine Grenze von Zivilgesellschaft."
Der Autor Lukas Rietzschel spricht im Interview über soziale Ungerechtigkeiten, sinnlose Bürgerdialoge, Wunschzettel für den Strukturwandel – und wie er sich die Oberlausitz in 30 Jahren vorstellt.
Bleiben also noch die politischen Entscheidungsträger*innen. Welche Vision haben sie für die Zukunft der Region? Beim “Revierstammtisch” in Zittau herrscht Ratlosigkeit. "Warum wird das alles so negativ wahrgenommen? Der Bund gibt uns viel Geld, um die Region zu entwickeln und Strukturwandel zu machen und die Stimmung ist dennoch schlecht.", fragt Dr. Stephan Mayer (CDU) in die Runde und bringt das auf den Punkt, was viele zuvor angedeutet haben.
Lukas Rietzschel meint, dass man diese Kreativitätslosigkeit der Politiker*innen beim Einsatz von Strukturförderungs-Geldern nicht zu sehr anprangern sollte. Schließlich sei kommunale Verwaltung noch nie der Inbegriff für zukunftsweisendes Denken gewesen.
Die große Live-Verlosung vom 25. Mai mitten auf dem Dresdner Neumarkt. Am Glücksrad der Görlitzer Autor Lukas Rietzschel:
Viel schlimmer findet er, dass so viel Geld in die Entscheidungsprozesse fließt und die Bürger*innen dabei nur vordergründig mitreden dürfen: "Da werden extra Strukturwandel-Agenturen gegründet, die irgendwelche Bürgerdialoge abhalten sollten in den sogenannten betroffenen Gebieten. Da ist dann ein Bürgerforum, da darf man kurz seine Sorgen äußern, aber so richtig eingebunden in die Prozesse wird man am Ende dann doch nicht."
Dabei könnt man, seiner Ansicht nach, unter Einbeziehung der Bevölkerung "mal verrücktes Zeug machen. Nicht wieder eine neue Umgehungsstraße bauen, sondern mal etwas, was wirklich funktioniert."
Grundeinkommen als Chance für Regionen im Umbruch?
Baukje Dobberstein hatte so eine Idee. Als deutlich wurde, dass in der Oberlausitz mit dem Ende des Braunkohleabbaus eine riesige Lücke zurückbleiben würde, stellte sie die Initiative "BGE statt Braunkohle" auf die Beine und setzte sich für einen Grundeinkommens-Modellversuch in der Lausitz ein - "als Investitionspauschale und nicht als Stilllegungsprämie", wie sie betont.
Nicht nur um den Ausstieg aus der Kohle ökologisch und sozialverträglich zu gestalten, sondern vor allem, um "die Strukturprobleme und die Zweit- und Dritteffekte" abzufangen, die ein solcher wirtschaftlicher Umbruch mit sich bringt. Denn, wenn ein Wirtschaftsmotor wie die Kohle verstummt, hat das Auswirkungen auf fast alle anderen Lebensbereiche in der Region.
Auch wenn aus der Initiative schlussendlich kein Modellprojekt wurde, sieht Dobberstein sie nicht als gescheitert. Es ginge vielmehr darum, eine mutige Idee im Diskurs zu platzieren, um "in den Köpfen die Idee zu säen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt. Denn die Frage ist nicht, ob ich etwas Neues schaffe, sondern von wem das ausgeht."
Dass es jetzt neue Konzepte braucht, scheint selbst auf Gewerkschaftsseite klar zu sein. Auch wenn die wirtschaftliche Absicherung der Beschäftigten der Kohlewirtschaft mittlerweile beschlossene Sache ist, macht man sich Sorgen über die "Sicherung und Ansiedlung von mitbestimmten und tarifgebundenen Arbeitsplätzen (...) in den Revieren" - so Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied. Hoffnung scheint man dabei auf staatliche Maßnahmen zu setzen.
Dobberstein stellt in Frage, ob ein solcher Wandel überhaupt von staatlicher Seite angestoßen werden kann. Gerade eben weil das Element der Mitbestimmung fehlt. Die Anwohner*innen der Lausitz zumindest scheinen den Eindruck zu teilen, dass bisher wenig passiert ist.
Im "Lausitz Monitor 2021" sieht zwar die Mehrheit die Notwendigkeit für einen tiefgreifenden Strukturwandel, aber die wenigsten sehen, dass dieser schon eingesetzt hat. Vielen fehlt eine "klare Vision von der Zukunft der Region" (79%) und die größte Unzufriedenheit herrscht beim Thema "Arbeit".
Wäre es da nicht vielversprechender, den Menschen das Geld selbst in die Hand zu geben und damit eine organische Innovationsförderung "von unten" zu unterstützen? Die Meinungen gehen auseinander. Lukas Rietzschel sieht das Potenzial einer Grundsicherung vor allem darin, "Hilfe zur Selbsthilfe zu geben" und damit auch als nachhaltigere Alternative zu kurz gedachten staatlichen Maßnahmen.
Unsere Gewinnerin Dana hingegen fürchtet, dass es vielen an Gestaltungswillen mangele und sagt, dass man diesen in Sachsen erst wieder fördern müsse. Baukje Dobberstein teilt den Eindruck, dass viele Menschen statt Wandel eigentlich viel lieber am Alten festhalten wollen.
Gleichzeitig weist sie aber auch auf eine kollektive Umbruchserfahrung hin: "Die Menschen in Sachsen waren schon immer gut darin, aus widrigen Umständen und Rahmenbedingungen Chancen zu machen."
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Auch Lukas Rietzschel ist sich sicher: "Wirtschaftlich und kulturell war Sachsen einfach schon immer herausragend, auch was Literatur, Bildende Kunst oder das Handwerk betrifft. Insofern glaube ich, dass Sachsen auf einem guten Weg ist."
Fest steht: Damit das gelingt, braucht es grundlegend neue Ansätze. Mit Altbewährtem scheint das Ausmaß der Veränderungen in den strukturschwachen Regionen Sachsens bisher nur ungenügend eingefangen werden zu können. Schlussendlich werden deshalb wohl verschiedene Themen miteinander verknüpft werden müssen: Ein neues Vertrauen in die Ideen und Potenziale der Bürger*innen, Raum für echte Partizipation, ein zukunftsgerichteter Blick – und ja, vielleicht auch Mut zu "verrückten" Ideen.
Was denkst du? Was braucht es, damit der Wandel in strukturschwachen Regionen gelingt? Könnte ein Grundeinkommen dabei helfen – in Sachsen und anderswo? Wir freuen uns auf deine Meinung!
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