Nie zuvor waren so viele Deutsche extrem reich wie heute. Aber selten hatten auch gleichzeitig so viele Deutsche extreme Existenz- und Abstiegsängste. Wie kann das sein? Was steckt hinter der wachsenden sozialen Ungleichheit? Und kann man da gar nichts machen? Eine Suche nach Antworten – und eine große Ankündigung.
Diese Schlagzeilen stammen beide aus Deutschland und liegen nur ein halbes Jahr auseinander. Dabei klingen sie doch, als berichteten sie über zwei völlig verschiedene Welten.
Sie spiegeln eine seltsame Uneinigkeit vieler Menschen wider, die in Politik, Medien oder einfach am Frühstückstisch darüber sprechen, wie es eigentlich gerade um unseren Wohlstand steht: Geht es uns finanziell so gut wie nie zuvor? Oder waren im Gegenteil noch nie so viele Menschen von Armut bedroht wie heute? Was stimmt denn nun?
Sind wir nun extrem reich – oder extrem arm?
Die verblüffende Antwort lautet: Beides stimmt! Noch nie gab es so viele extrem reiche Menschen – und gleichzeitig so viel extreme Armut. Die Krisen der letzten Jahre haben die Ungleichheit, die es schon vorher gab, nochmal verschärft. Die berühmte Schere zwischen Arm und Reich, sie geht immer weiter auseinander.
Ein paar wichtige Fakten reichen schon, um jeden Zweifel an dieser Entwicklung auszuräumen: Etwa jede*r Sechste in Deutschland ist arm. Das sind 14,1 Millionen Menschen, davon sind 2,8 Millionen Kinder. Die Zahl der Armen liegt heute um 840.000 Menschen höher als vor der Coronakrise. Ein trauriger Rekord, der da 2021 aufgestellt wurde.
Durch Energiekrise und Inflation dürfte die Armut inzwischen sogar noch mehr Menschen betreffen. Und sie rutschen von Jahr zu Jahr tiefer ins Minus: 2010 waren arme Haushalte im Schnitt 2.968 Euro pro Jahr entfernt davon, die Armutsgrenze hinter sich zu lassen. Neun Jahre später waren es schon rund 1.000 Euro mehr. Tendenz steigend.
Haben wir uns etwa schon an die Ungleichheit gewöhnt?
Solche Sätze sind alarmierend, aber sie scheinen uns immer weniger zu alarmieren. Fast bekommt man das Gefühl, wir hätten uns an die extreme Ungleichheit gewöhnt, und mit ihr an das Bild der sich öffnenden Schere. Als wären sie ein Naturgesetz.
Aber soziale Ungleichheit ist kein Naturgesetz! Und wir wollen uns auch nicht daran gewöhnen! Stattdessen wollen wir verstehen: Warum ist das eigentlich so?
Die Gründe der Ungleichheit zu kennen, ist der erste Schritt, um sie zu beenden. Wir müssen erst verstehen, was die Schere auseinander treibt – bevor wir sie schließen können.
Also: Welche ganz konkreten Mechanismen beim Verteilen von Geld sorgen dafür, dass Ungleichheit nicht nur fortbesteht, sondern über Generationen weitergegeben wird – und sich in den Krisen der letzten Jahre sogar noch verstärken konnte? Hier sind die drei wichtigsten:
Ungleich, weil hohe Einkommen stärker wachsen
Wenn die Lebenskosten wegen Krisen und Inflation so stark steigen wie in den letzten drei Jahren, dann werden alle diejenigen automatisch ärmer, deren Einkommen nicht im gleichen Maß steigen wie die Preise. Wollen wir raten, wen das stärker betrifft: die Reichsten oder alle anderen?
Die hohe Inflation seit dem letzten Jahr hat "zu einem realen Rückgang bei den Einkommensschwachen geführt, während Topverdienende noch von leichten realen Einkommenszuwächsen profitiert haben dürften", zeigt eine Modellrechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus diesem Sommer. Das neue Rechenmodell sorgte für Aufsehen, weil es erstmals die aktuellen Abstände bei Löhnen und Gehältern bestimmen kann – nicht erst rückblickend mit ein paar Jahren Verzögerung.
Deswegen wissen die Forschenden auch bereits, dass die Einkommenskluft in diesem Jahr weiter wachsen wird: "Insgesamt dürfte die Ungleichheit der Arbeitseinkommen im Zuge der wirtschaftlichen Erholung nach der Pandemie sogar leicht zugenommen haben und auch in diesem Jahr noch etwas größer werden."
Wenn es um die Folgen der Krisen im eigenen Portemonnaie geht, sitzen wir eben nicht alle im selben Boot. Wer schon vor der Pandemie weniger verdient hat als die Reichsten, ist mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit seitdem faktisch ärmer geworden. Der Spirale, die dieser Verteilungsmechanismus auslöst, entkommen nur die, die neben ihrem Einkommen zusätzlich über Vermögen verfügen…
Ungleich, weil Vermögen immer Vermögen anzieht
Die Vermögen der Reichsten scheinen wie ein Magnet zu funktionieren: Sie ziehen immer mehr Geld an, scheinbar unabhängig davon, was sonst auf der Welt passiert. Noch vor 25 Jahren besaßen alle Milliardäre weltweit zusammen etwa 315 Milliarden Dollar. Eine Generation später hat sich ihr Vermögen auf 3.000 Milliarden Dollar fast verzehnfacht.
Wirtschaftliche Krisenjahre scheinen diesen Mechanismus eher nicht zu stören, im Gegenteil: Ausgerechnet das erste Coronajahr 2020 war “eines der finanziell erfolgreichsten Jahre für Milliardärinnen weltweit”, analysiert Prof. Marcel Fratzscher vom DIW. Gleichzeitig fielen mehr als 100 Millionen Menschen in absolute Armut. Wie kann das sein?
In den letzten Krisenjahren profitierten die Reichsten vor allem vom Boom der Aktienmärkte und explodierenden Immobilienpreisen. Generell stammen ihre Vermögen aber in erster Linie aus Erbschaften: 70 Prozent der Milliardenvermögen wurden nicht selbst erarbeitet, sondern einfach geerbt oder geschenkt. Allein in Deutschland sind das 400 Milliarden Euro jedes Jahr. Das ist mehr als doppelt so viel, wie wir für Bildung ausgeben.
Dieser Verteilungsmechanismus nimmt sogar an Fahrt auf. Denn wir stecken mitten in einem Generationenwechsel, bei dem die seit dem deutschen Wirtschaftswunder aufgebauten riesigen Vermögen nun an die nächste Generation weitergegeben werden.
Ungleich, weil die Falschen Steuergeschenke erhalten
Durch kluge Steuerpolitik könnte man die wachsende Ungleichheit der Einkommen und der Vermögen gezielt bremsen – aber in der Realität haben die Steuergesetze der letzten Jahrzehnte sie im Großen und Ganzen sogar noch beschleunigt: Obwohl die Reichsten immer reicher wurden, sind die Spitzensteuersätze in vielen Ländern drastisch gesunken. Auch in Deutschland: 1980 zahlten die Reichsten noch bis zu 56 Prozent Einkommenssteuer. Heute sind es nur noch bis zu 42 Prozent. Von den Ungerechtigkeiten bei der Besteuerung von Vermögen und Erbschaften ganz zu schweigen.
Diese Ungerechtigkeiten befeuern die Ungleichheit dreifach. Erstens: Den reichsten aller Menschen bringen Senkungen der Steuern auf Einkommen und Vermögen sehr viel: Ihr Anteil am Gesamteinkommen ist in der Vergangenheit jedes Mal messbar angestiegen, wenn man ihre Steuersätze gesenkt hat.
Zweitens: Allen anderen bringt das in der Regel persönlich kaum etwas.
Und drittens: Auch ein oft behaupteter gesellschaftlicher Nutzen von Steuergeschenken für die Reichsten bleibt aus: Weder verringerte sich bislang dadurch die Arbeitslosigkeit, noch wuchs die Wirtschaft messbar. Eine Studie des Londoner King’s College, die das belegt(englisch), hat zwischen 1965 und 2015 in insgesamt 18 Industriestaaten untersucht, wie Steuersenkungen für die Reichsten und die Ungleichheit zusammenhängen. Die Effekte waren überall dieselben.
Damit erklären die Forscher*innen die Theorie des "Trickle Down"-Effektes, die meistens hinter dieser Steuerpolitik steckt, zum Märchen: Ihr zufolge komme die Entlastung der Reichsten nach und nach auch bei den Ärmsten an, sie tröpfle gewissermaßen von oben nach unten wie Sekt in einer Sektpyramide. Aber in der Realität tröpfelt da eben nicht viel.
Die Hans-Böckler-Stiftung, die die Studie ausgewertet hat, bringt es auf den Punkt: Nichts deute darauf hin, dass Spitzenverdienende mehr arbeiten und investieren, wenn sie steuerlich entlastet werden. Dass in diesem Fall die Ungleichheit zunimmt, während kein positiver Effekt auf die Wirtschaftsleistung erkennbar ist, spreche eher dafür, dass Steuersenkungen Reiche animieren, sich noch aggressiver durchzusetzen – auf Kosten der unteren Etagen in der Einkommenspyramide.
Unterm Strich vergrößert hier wieder ein Verteilungsmechanismus den Abstand zwischen den Reichsten und allen anderen.
Bloß kein falscher Neid
Halten wir fest: Die soziale Ungleichheit wird vor allem durch ungerechte Verteilungsmechanismen zwischen den Reichsten und allen anderen am Leben erhalten, die es schon lange vor den jüngsten Krisen gab. Die Krisen haben die Ungleichheit "nur" noch zugespitzt. Und sie auf Millionen Menschen ausgedehnt, die das vor ein paar Jahren noch nicht für möglich gehalten hätten. Zur realen Existenzangst der Armutsbetroffenen kommt nun die ebenso reale Abstiegsangst der so genannten Mittelschicht hinzu.
Damit lässt sich die scheinbar so kontroverse Frage vom Anfang, ob es uns finanziell "viel zu gut geht" oder "so schlecht wie seit langem nicht", ziemlich eindeutig beantworten: Es kommt einfach darauf an, auf welcher Seite der sozialen Schere man steht!
Auf der anderen Seite stehen alle anderen. Diejenigen, die unmittelbar von Armut betroffen oder bedroht sind. Aber auch diejenigen, die sich mit soliden Einkommen und Vermögen zur Mittelschicht zählen.
Aber um sie, die solide Mittelschicht, geht es gar nicht. Unsere Analyse zeigt, wer wirklich gemeint ist.
Unser Thema Das Ende der Ungleichheit stellt die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in den Vordergrund – und blickt auf verschiedene Möglichkeiten, diese zu überwinden.
Wer bis hierhin gelesen hat, fragt sich unweigerlich: ‘Und jetzt?!’ Wenn wir uns einig sind über die Ungleichheit, ihre Mechanismen und die Ungerechtigkeit, die sie erzeugen, dann sollten wir doch längst daran arbeiten, sie zu beenden, oder? Wir alle zusammen.
Aber eine breite gesellschaftliche Debatte mit konkreten Forderungen nach einer Vermögenssteuer oder höheren Erbschaftssteuern oder mehr Ausgleich für alle, die nicht zu den Reichsten zählen, sucht man meist vergeblich. Einen kollektiven Aufschrei erzeugt eher die Abschaffung des Elterngeldes für wirklich wohlhabende Eltern als die Verschleppung der lange ersehnten Kindergrundsicherung für alle. Wie zuletzt geschehen, unmittelbar vor der parlamentarischen Sommerpause.
Das kann kaum mehr daran liegen, dass es keine Sehnsucht von immer mehr Menschen gibt, die soziale Schere endlich wieder ein großes Stück weit zu schließen. Das haben wir gezeigt. Aber woran liegt es dann? Fehlen vielleicht einfach bisher die guten Ideen, die verständlichen Lösungen, die ganzheitlichen Konzepte für einen echten Ausgleich, hinter denen sich viele Menschen versammeln können?
Wenn das so ist, dann sagen wir hier und jetzt ganz offiziell: Das werden wir ändern! Noch in diesem Herbst. Versprochen.
Willst du unbedingt wissen, was wir als nächstes vorhaben? Du kannst es kaum noch erwarten? Wir platzen auch schon fast vor Aufregung.
Was denkst du? Wie ungleich empfindest du unsere Gesellschaft? Auf welcher Seite der sozialen Schere stehst du selbst? Lies mehr über “Das Ende der Ungleichheit” oder nimm an unserer großen Umfrage zum Themateil. Wir freuen uns auch über deine Meinung hier in den Kommentaren!
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