Bahnstreiks, Bauernproteste und Demokratie-Demos: An zivilem Engagement fehlt es zu Beginn des Jahres 2024 nicht in Deutschland. An Zusammenhalt schon eher, denn in den sozialen Debatten hinter jedem dieser Themen wird heftig gehetzt. Was braucht es jetzt, um die voranschreitende Spaltung in Solidarität umzuwandeln?
Anfang vergangenen Jahres fielen die journalistischen Voraussagen für 2023 oft sehr hoffnungsvoll aus. Im Angesicht des russischen Angriffskriegs und der Corona-Nachwehen dachten viele Menschen verständlicherweise: Schlimmer geht’s nimmer!
Zu einem Reality Check müssen wir dieses Jahr gar nicht erst ansetzen, denn den allermeisten ist bewusst, dass wir im "Krisenmodus" sind. Während die Pandemie "endemisch" wurde (Grüße an Prof. Dr. Drosten), ist bei den aktuellen Kriegen kein Ende in Sicht.
2024 könnte nun das Jahr werden, in dem die bisherige sogenannte Polykrise – mehrere Krisen zur gleichen Zeit also, die sich gegenseitig verstärken – ihre Wirkung auf sozialpolitische Themen weiter verstärkt.
Ein gekürzter Haushalt, der keine Schulden mehr machen darf, führt unsere Parteipolitik nämlich in urtypische Debattenlager: Wirtschaftsförderung vs. Investitionen in Soziales, wie zu Altkanzler Adenauers Zeiten.
Die aktuellen Schein-Debatten um Bürgergeld und Co. spiegeln dabei eine beunruhigende Tendenz in unserer politischen Kultur wider: Es wird Angst geschürt, zum Beispiel vor einer vermeintlichen Masse an Menschen, die sich auf den als "zu üppig" verschrienen Bürgergeld Regelsätzen ausruhen könnten.
Diese Symbolpolitik wird genutzt, um den Status quo aufrechtzuerhalten und zugleich jene zu besänftigen, die sich in prekären Arbeitsverhältnissen befinden. Dadurch wird ein solidarisches Miteinander, das auf echter sozialer Gerechtigkeit und wechselseitiger Unterstützung beruht, immer weiter in den Hintergrund gedrängt.
Wir haben vier brisante Themen aufgeschrieben, die dieses Jahr voraussichtlich die sozialen Debatten im Inneren bestimmen werden – und bei denen es sich lohnt, etwas genauer auf das jeweilige Narrativ zu blicken.
1. Spaltet die Bürgergeld-Erhöhung Koalition und Gesellschaft?
Zum Start der Ampelkoalition war das Bürgergeld das Thema für kantige Debatten. Am 1. Januar 2023 durfte Arbeitsminister Hubertus Heil dann verkünden, dass der SPD-gemachte Fauxpas "Hartz IV" der Vergangenheit angehört und von nun an Bürgergeld heißt.
Für Agitator*innen rechts der SPD war und bleibt das Bürgergeld ein Einfallstor für Hasstiraden und spaltende Polemik.
CDU-Mann Friedrich Merz sprach von einem Schritt auf dem "Weg in ein bedingungsloses Grundeinkommen" (na, schön wär’s), bezichtigte Deutschland der "Arbeitsverweigerung" – und den Rest der Welt des "Sozialtourismus". Und zwar nur deshalb, weil sich die sozialen Bezüge an das aktuelle Existenzminimum angepasst haben, so wie es unser Grundgesetz will.
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Sehen wir uns einmal die Statistik an: Während 2023 fast vier Millionen Menschen Bürgergeld bezogen, waren es zuvor in sechs von zehn Jahren deutlich über vier Millionen, die Hartz IV bezogen – trotz niedrigerer Bezüge und härterer Sanktionen.
Aber was sind schon Fakten gegen eine diffamierende Kampagne, in der inhaltlich die CDU, die AfD und seit kurzem auch die FDP auf einer Linie stehen? Die diesjährige Erhöhung des Bürgergelds um 12 Prozent im Regelsatz als Inflationsausgleich scheint die Gemüter nun abermals zu erhitzen.
Steht unsere Gesellschaft vor der Zerreißprobe? Hier liest du mehr darüber, was es jetzt für sozialen Zusammenhalt braucht.
Diese Art der Debattenführung ist für die Beteiligten besonders eines: sehr bequem. Sie lenkt ab von komplexeren Themen, die mehr Vision, mehr Mut erfordern:
Warum liegt der Niedriglohnanteil in Deutschland seit Jahren bei rund 20 Prozent (Vergleiche Frankreich: 8,6 Prozent)? Welche Industrien und Technologien müssen gefördert werden, damit sich das ändert? Wie können geflüchtete Menschen strukturell in den Arbeitsmarkt eingeführt werden, der so viel Bedarf an Arbeitskräften hat?
Stattdessen werden wir weiter über die Erhöhung des Bürgergelds oder dessen Kürzung streiten müssen. Das ist die Kerbe, die die Opposition eingeschlagen hat. Die Koalition könnte nun mit Zusammenhalt die Debatte umlenken – oder einen Keil hinein hauen.
2. Sparen > Menschenwürde: Die Sanktionen im Bürgergeld
Bürgergeldbeziehenden kann der Regelsatz von 563 Euro für ein bis zwei Monate komplett gestrichen werden, wenn sie wiederholt "zumutbare" Jobs nicht annehmen und sich nicht "kooperativ" zeigen:
Beschleunigt wurde diese Entscheidung durch die Haushaltskürzungen – das Einsparpotenzial scheint hier besser weggekommen zu sein als die Menschenwürde.
Teile der Koalition übernehmen hier übrigens den Kampfbegriff "Totalverweigerer", der auch von rechts außen in die Debatte schwappt. Damit schaffen sie einen undifferenzierten und verunglimpfenden Blick auf Menschen, die gewisse Jobs nicht annehmen, während von tatsächlich wirksamer Bildungs-und Arbeitsmarktpolitik gezielt abgelenkt wird.
Eine so geführte Debatte ist nicht auf ein gegenseitiges Verstehen und auf Lösungen für das (vermeintliche) Problem aus – sondern auf Stigmatisierung und, klar, Einsparungen.
3.Rechte Stimmungsmacher*innen kapern die Bauernproteste
Der sprichwörtliche Elefant im Raum ist dieses Jahr der Trecker am Rathaus. Ausgelöst durch Subventionskürzungen des "Agrardiesels" haben die Proteste der Bäuer*innen eine Vehemenz erreicht, die durch ihre schiere Menge vielen Angst macht.
Denn es sind längst nicht nur Landwirt*innen, die wochenlang ihre Motoren quer durch die Republik fuhren. Gelbwestenähnlich vermischen sich bei diesen Protesten Bäcker*innen und Bäuer*innen, Linke und Rechte, Arme und Reiche – vereint durch Frust. Die Proteste verlaufen friedlich, aber die Wut ist real und muss gehört werden.
Der soziale Frieden könnte jedoch durchaus wanken, wenn die Aufmärsche weitergehen. Für Christian Lindner scheinen die Forderungen der Landwirt*innen eine Rechtfertigung für weitere Kürzungen der Sozialleistungen zu sein:
"Wir dürfen es nicht länger tolerieren, wenn Menschen sich weigern, für ihr Geld zu arbeiten", sagte er vor den Landwirt*innen. Als hätte es irgendetwas mit ihren Forderungen zu tun.
Viele rechte Aktivisten, es sind vorrangig Männer, wie der als Reichsbürger verdächtigte Gernot von Hagen, unterwandern die Chats. Die Art der Stimmungsmache ist bekannt aus Kreisen der AfD und führt dazu, dass ein nachvollziehbarer Branchenprotest zunehmend den Charakter von rechter Hetze bekommt.
Zum Sündenbock auserkoren werden, das Schema ist bekannt, geflüchtete und bedürftige Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind.
4.Die neuen Parteien BSW und Werteunion mischen das Feld auf
Neue Parteien mit Relevanz auf Bundesebene treten selten zutage. Sahra Wagenknecht und ihre abtrünnigen Linken begeben sich dieses Jahr auf das Wagnis, eine solche zu etablieren.
Dieses Jahr stehen die Europawahl und drei Landtagswahlen in Ostdeutschland an – was können wir da erwarten? Das erste Parteiprogramm von BSW ist nicht sonderlich überraschend, es geht um Pazifismus (russlandfreundlich), Klima (technologieoffen), und EU-Politik (einschränkend).
Ein bisschen von allen Seiten also, und so ist es kein Wunder, dass die größten Sympathisant*innen des Bündnisses bisherige Linke, AfD und Freie Wähler*innen sind. Beim Thema soziale Gerechtigkeit fehlt es dem BSW nicht an Schlagworten, aber an konkreten Konzepten schon noch – der Schwerpunkt Umverteilung dürfte aber zu erwarten sein.
Wagenknechts Strategie, "organisch zu wachsen" und behutsam in die Debatten einzusteigen, geht bislang auf. Die neue Partei wird also sicher bei den Wahlen mitmischen. Welche Karten sie aufdeckt, wird daran hängen, wer am Ende mit am Tisch sitzt.
Bei der jüngst gegründeten Werteunion gibt es kein Potpourri der politischen Ansichten, dafür klare konservative Kante, nach rechts und offen für eine Koalition mit der AfD. Kein Wunder, wenn man den ehemaligen CDU-ler und Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen, Kopf dieser Union, von einer "grün-roten Rassenlehre" oder "Wirtschaftsglobalisten" reden hört.
Passt da zwischen rechts und rassistisch also noch eine dritte Partei? Da CDU und AfD einen starken Aufwind haben und mit der BSW schon eine Partei im Rennen ist, die Frustwähler*innen auffangen kann, wird die Werteunion wenig Wachstumsmöglichkeiten haben.
Wir schreiben das Jahr 2024, und es sieht nach einer ganzen Menge Populismus und Lagerdenken aus. Bedauerlich, dass in dieser Gemengelage kein*e Akteur*in ein solidarisierendes Thema zu setzen vermag.
Wie wär’s mit chancengerechter und lebenslanger Bildung, für Groß und Klein? Oder statt die "Totalverweigerer" zu sanktionieren: Die Sanktionen entbürokratisieren?
Um der gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, müssen wir uns von der aktuellen Angst- und Spaltungspolitik abwenden und uns auf solide, ganzheitliche politische Lösungen konzentrieren. Lösungen, die verletzliche Gruppen weniger verletzlich machen – statt sie gegeneinander auszuspielen.
Wir brauchen einen echten Ausgleich und dadurch letztendlich auch eine Kultur der Solidarität, in der Menschen nicht mit billiger Symbolpolitik gegeneinander aufgehetzt werden.
So funktioniert der Ausgleich – jetzt herausfinden, ob auch du profitieren würdest.
Die protestreichen Januar- und Februarwochen zeigen: Die Bürger*innen lechzen nach konkreten politischen Visionen. Der Nährboden für rechte Hetze ist da, aber genauso ist dies eine Chance, das gesellschaftliche Miteinander und Engagement in den Mittelpunkt zu rücken.
Damit dieses Thema in den hitzigen Debatten Bestand hat, müssen Politker*innen mutige Allianzen eingehen. Die Zeiten der Alleingänge sind vorbei.
Was denkst du? Steht unsere Gesellschaft am Scheideweg? Oder wollen wir am Ende doch alle dasselbe? Verrate es uns in den Kommentaren!
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