Wie geht es eigentlich den Menschen, die am unmittelbarsten von den Folgen des Rechtsrucks in Deutschland betroffen sind? Stephan Anpalagan kennt die Gräben, die quer durch unser Land verlaufen – einige aus eigener leidvoller Erfahrung. Und er hat Ideen, wie man diese Gräben zuschütten kann.
Wir treffen Stephan Anpalagan im Café des Berliner Theaters "Heimathafen". Mehr Symbolik geht eigentlich nicht: Hier kann man nicht nur gut über Heimat und Zugehörigkeit sprechen. Hier, mitten durch Neukölln, verlaufen auch so ziemlich alle aktuellen Konfliktlinien unseres Landes: politische Extreme, Migration, Antisemitismus, Armut.
Diese Konfliktlinien – und wie sie zusammenhängen – beobachtet der Autor und Theologe schon sehr lange. In letzter Zeit haben sie sich mal wieder zu abgrundtiefen Gräben aufgetan. Das macht Stephans gerade erschienenes Buch "Kampf und Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft" aktueller denn je. Und das Gespräch mit ihm erst recht.
Stephan, wie geht’s dem Miteinander in unserer Heimat gerade?
Stephan Anpalagan: Ich habe gemischte Gefühle. Man könnte frei nach Heinrich Heine sagen: "Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich halb um meinen Schlaf gebracht." Zumindest ein paar Stunden kann ich jedenfalls durchschlafen.
Was läuft denn gerade gut und was schlecht?
Stephan Anpalagan: Es gibt ein paar Dinge, die sich langfristig als Chancen herausstellen werden – auch wenn sie uns erstmal herausfordern. Zum Beispiel der Arbeitskräftemangel. Der stellt natürlich unsere wirtschaftliche Zukunft in Frage. Aber er konfrontiert uns auch plötzlich damit, dass wir Deutschen alleine dieses Land nicht retten werden. Wir brauchen viel Know-How und Ressourcen von außen – so wie in den Fünfzigern durch die so genannten Gastarbeiter. Dadurch werden sich die Klangfarbe und das Gesicht dieses Landes verändern. Und damit müssen wir uns frühzeitig auseinandersetzen. Die Politik hat es 70 Jahre lang nicht geschafft, darauf Antworten zu finden. Ich bin gespannt, ob sie es in den nächsten Jahren schafft.
Anderes läuft natürlich ganz furchtbar schlecht: Es ist schwer mitanzusehen, wie die politische Radikalisierung voranschreitet, wie radikales und extremistisches Gedankengut an die gesellschaftliche Mitte anschlussfähig wird. Seit dem 7. Oktober kann man feststellen, dass ganz Deutschland plötzlich aufschreckt über das Maß an Antisemitismus – als habe der vor dem Jahr 2015 keine Rolle in der deutschen Geschichte gespielt. Die ganzen pauschalen Zuschreibungen, die da gerade täglich passieren, machen es vielen Menschen schwer, dieses Land als ihre Heimat zu verstehen.
Allein in deiner ersten Frage steckt ja für manche Menschen in diesem Land durchaus Provokations-Potenzial, wenn jemand wie du mit jemandem wie mir über "unsere Heimat" spricht. Das finde ich hochgradig spannend! Denn wir beide empfinden das so, dass dieses Land unsere Heimat ist. Aber es scheint noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein, dass das geht.
Diese Identitätsfragen, bei denen Menschen dauernd für sich selbst und andere entscheiden, wer dazugehört und wer nicht, sind doch eher Ausdruck eines Gegeneinanders als Miteinanders, oder? Nimmt diese Spaltung eigentlich zu?
Stephan Anpalagan: Darauf hat vermutlich jeder eine andere Antwort: Der Soziologe Steffen Mau sagt etwa, es gebe gar keine gesellschaftliche Spaltung. Auf der anderen Seite glaube ich, dass Deutschland schon immer in seiner Gesellschaft gespalten war: Wir hatten erst hunderte Jahre lang eine Ständegesellschaft, dann eine Klassengesellschaft, lauter soziale Milieus, die aneinander vorbeilebten. Menschen wie die Journalistin Isabel Wilkerson sprechen aktuell von einer Kastengesellschaft in westlichen Staaten wie den USA.
Auch früher gab es schon harte politische Diskussionen über Identitäten. Wenn du Leute befragst, die die 68er-Jahre real miterlebt haben, dann halten die das, was heute passiert, für einen Kindergarten. Die Auseinandersetzungen um die Startbahn West, die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, den Umgang mit linkem Terrorismus im deutschen Herbst…
Aber wir müssen gar nicht so weit zurückblicken: Frag mal Ostdeutsche, ob sie der Meinung sind, dass wir eine gespaltene Gesellschaft sind! In der Frage finde ich den Ansatz von Jana Hensel und Naika Foroutan super interessant. Sie sagen: Es gibt bestimmte Erfahrungen, Emotionen und Entwicklungen, die Migrantengruppen und Ostdeutsche gemeinsam haben. Dieses Zurückgestellt-Werden, das Bürger-zweiter-Klasse-Sein und auch, immer mehr leisten zu müssen als andere für die Hälfte der Anerkennung. Im Grunde scheint es nicht einen, sondern ganz viele Risse durch diese Gesellschaft zu geben.
Warum sind wir scheinbar unfähig, diese Spaltung zu überwinden?
Stephan Anpalagan: Es gibt zwei Schubladen, die die Politik immer in Wahlkämpfen und während großer Krisen aufmacht: Die eine ist die Ausländer-Schublade. Nur zwei Beispiele: Ukrainer sind Sozialtouristen oder Ausländer nehmen uns die Zahnarzttermine weg. Wenn etablierte Parteien wie die CDU bei Straftaten nicht mehr nur Staatsangehörigkeit, sondern auch Migrationshintergrund und Vornamen abfragen, ist das doch ein Zeichen dafür, dass es nicht um Problemlösung, sondern um Sündenböcke geht. Die zweite ist die Armuts-Schublade. Wer ein bisschen älter ist, erinnert sich vielleicht noch an Florida-Rolf, einen der "faulsten Arbeitslosen Deutschlands".
Da ist eine ganze politische Strömung am Werk, die immer im Wechsel eine dieser beiden Schubladen aufmacht. Im Übrigen nicht nur bei den Konservativen. Thilo Sarrazin war in der SPD, Boris Palmer war Grüner, Sahra Wagenknecht war Linke.
Und die Dummies in der Mitte oder in der progressiven liberalen Ecke lassen sich von denen in der rechten Ecke treiben. Medial, gesellschaftlich, politisch. Das ist ein großes Übel. Ich würde mir wünschen, dass wir stattdessen eigene Antworten finden, eigene Visionen und einen eigenen Zugang zu diesen Herausforderungen entwickeln.
Zwei Herausforderungen hast du schon benannt, den Fachkräftemangel und die politische Radikalisierung. Welche noch?
Stephan Anpalagan: Wie organisieren wir Infrastruktur, Bildung, Gesundheit, Rente oder Sicherheit? Wie sorgen wir für Gerechtigkeit im Land? Können arme Kinder ihre Träume verwirklichen? Was machen wir gegen Einsamkeit? Was machen wir damit, dass arme und alte Menschen zurückgesetzt sind? Wie reagieren wir auf die nächste Pandemie?
Klar können wir bei jeder dieser Fragen wieder Florida-Rolf oder Mahmoud aus der Schublade ziehen. Aber was haben die damit zu tun, dass wir alle höchstwahrscheinlich keine Rente mehr bekommen werden? Oder unser Bildungssystem so kaputt ist? Oder in der Geburtenstation im Krankenhaus die Betten fehlen? Was haben denn die Armen und die Ausländer damit zu tun, dass unsere Brücken marode sind?
Ich habe in meinem Buch ganz emotionslos aufgezählt, dass 38 von 40 Dax-Unternehmen von weißen Männern geführt werden. Die wenigsten würden der Erklärung zustimmen, dass das daran liegt, dass diese weißen Männer halt besonders fleißig sind und Frauen und Migranten nicht, oder? Es scheint also in unserer Gesellschaft jenseits der Spaltung etwas, eine Art Mechanismus, zu geben, der es bestimmten Gruppen in der Bevölkerung schwerer macht, voranzukommen.
Wie funktioniert dieser Mechanismus?
Stephan Anpalagan: Im Prinzip leiden wir an Prokrastination. Stell dir vor, du musst bis März eine Prüfung schreiben. Du hast also noch sehr viel Zeit. Und dann machst du erstmal nichts. Erst im Februar fängst du an, dafür zu lernen, und in den letzten Tagen vor der Klausur schiebst du Nachtschichten. Die Wahrscheinlichkeit, dass du die Klausur versemmelst, ist relativ hoch. Hättest du rechtzeitig angefangen, wäre das nicht so. Und das ist die Situation bei jeder einzelnen Herausforderung unseres Landes.
Wo wir schon bei der Bildung sind: Die erste Pisa-Studie war Anfang der 2000er Jahre. Es ist also zwanzig Jahre her, dass wir wissen, dass unser dreigliedriges Schulsystem ein soziales Problem ist: In keinem anderen Industrieland der Welt hängt der Bildungserfolg der Kinder so sehr von der wirtschaftlichen Lage der Eltern ab. Biste reich, werden deine Kinder erfolgreich – biste arm, dann halt nicht. Was haben wir denn in den zwanzig Jahren gemacht?!
Dasselbe bei der Energiewende: Wir haben stoisch auf fossile Energien gesetzt. Dann kam der Krieg in der Ukraine – und plötzlich soll der Habeck als Wirtschaftsminister innerhalb von drei Monaten Jahrzehnte verpasster Energiepolitik in einem Sofortprogramm reparieren. Dass er dafür natürlich unpopuläre Entscheidungen treffen muss, das kreiden wir ihm dann an. Und so ist das in jeder Lage in diesem Land.
Diejenigen, die uns das alles eingebrockt haben, haben gar keinen Bock, das jetzt alles noch zu klären, sondern sagen lieber: Macht ihr das mal besser, aber wehe, ich kriege meine Rente nicht pünktlich und ohne Kürzungen!
Wer ist eigentlich Stephan Anpalagan?
Stephan Anpalagan ist Diplom-Theologe und schreibt als Autor vor allem über Rechtsextremismus, Innenpolitik, Heimat und Identität. Er ist Geschäftsführer der gemeinnützigen Strategieberatung "Demokratie in Arbeit". Stephan wurde 1984 in Sri Lanka geboren. Seine Eltern flüchteten mit ihm vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland. Aufgewachsen ist Stephan in Wuppertal.
Wir haben also kein Erkenntnisproblem…
Stephan Anpalagan: Das hat doch schon Weizsäcker gesagt: Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem. Das war in den Achtzigern.
Ich glaube, die Deutschen sind ganz häufig wie Kinder mit gestörter Impulskontrolle. Wie beim Marshmallow-Test. Heute wissen wir, dass die Kinder heute erfolgreicher sind, die damals ihren Marshmallow nicht sofort gegessen haben. Man muss also erstmal unpopuläre Entscheidungen treffen, damit es einem später besser geht.
Nochmal: Ja, wir haben ein Problem mit unserer Debattenkultur – aber auch eins damit, dass hier keiner mehr in der Lage ist, unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen. Das ist ein großes Politik- und Kommunikationsversagen.
Wie überrascht bist du in dem Zusammenhang über die aktuellen Umfrage- und die Wahlergebnisse der AfD bei den letzten Landtagswahlen?
Stephan Anpalagan: Jeder, der sich ein bisschen mit Innen- und Sicherheitspolitik auskennt, weiß, dass wir in Hessen schon lange ein dickes Neonazi-Problem und ein hohes rechtsradikales Potenzial haben. Der NSU 2.0, der Mord an Walter Lübcke in Kassel, die Frankfurter Polizei… Wie überrascht soll ich jetzt sein?
Ohne schon wieder nur über den Osten sprechen zu wollen: Die Erzählung, dass die AfD ein reines ostdeutsches Problem ist, ist jetzt jedenfalls ein für alle Mal aus der Welt. Man muss aber auch sagen: Hessen war nur ein Vorgeschmack auf das, was in Ostdeutschland auf uns zukommen wird. Wir können froh sein, wenn die AfD nicht in drei Landtagen stärkste Kraft wird.
Aber in gewisser Weise bin ich froh, dass es die AfD gibt: Denn nicht die Partei an sich ist ja das Problem, sondern dass 20 Prozent der Deutschen, stellenweise sogar 40 Prozent, willens sind, sie zu wählen. Früher konnten sich diese rechten Strömungen, Stimmen und Positionen in der CDU verstecken. "Kinder statt Inder", "Das Boot ist voll", das waren alles CDU-Positionen. Alexander Gauland war Staatssekretär, Erika Steinbach, Martin Hohmann und Klaus Landowsky waren für die CDU im Bundestag oder in Landtagen. Heute wissen wir wenigstens Bescheid.
Lässt sich wenigstens diese Spaltung irgendwie überwinden?
Stephan Anpalagan: Theoretisch schon. Man könnte sich damit auseinandersetzen, was die Leute dazu bringen würde, sich von der AfD abzuwenden. Auch das wissen wir: Löst deren Probleme! Stattdessen schieben wir unbescholtene Pflegekräfte ab, weil irgendwelche Landräte sagen: Jetzt müssen wir hier aber mal was gegen Ausländer machen.
Denen muss man dann entgegnen: Ihr tut das Falsche! Kümmert euch lieber um Sozialarbeit, um Integrationshilfe, um Spracherwerb. Und jetzt rate mal, wo aktuell gekürzt wird: bei politischer Bildung, bei Sozial- und Integrationsarbeit. Dass sich an dieser Architektur unserer Problemlösung etwas ändert, das sehe ich nicht, ehrlich gesagt.
Dann war es absehbar, dass es das Thema Migration so schnell und mit so einer Wucht wieder auf Platz eins der politischen Agenda geschafft hat?
Stephan Anpalagan: Wir nehmen gerade den Antisemitismus hier bei uns und in der Welt zum Anlass, alle Muslime in unserer Heimat an den Pranger zu stellen. Das musst du erstmal hinbekommen: Fünf Millionen Muslimen zuzuschreiben, dass sie alle potenzielle Antisemiten sind. Die kurdische Gemeinde, die türkische Gemeinde, zahlreiche muslimische Organisationen haben sich geäußert und den Hamas-Terror verurteilt. Das interessiert aber keine Sau.
Es gibt eben nur die zwei Schubladen. Lass das Thema Migration in nem halben Jahr wieder weg sein, dann reden wir eben wieder über Bürgergeldempfänger. Entweder haben wir eine Debatte über Armut – nein, nicht über Armut, sondern über vermeintlich Asoziale – oder über Ausländer. Hast du jemals in Deutschland eine ernste Debatte über irgendetwas anderes gesehen? Ich nicht. Und ich lebe seit fast vierzig Jahren hier.
Du schreibst in deinem Buch, Ausländer blieben auf Lebenszeit "Deutsche auf Bewährung". Wie meinst du das?
Stephan Anpalagan: Wenn in einer Familie einer Scheiße baut, dann kriegt er Ärger. Hausarrest oder Taschengeldentzug. Aber er wird nicht gleich zur Adoption freigegeben. Es bleibt immer klar: Der trägt unseren Namen, das ist einer von uns. Wenn du aber als Ausländer, als Deutscher mit Migrationshintergrund etwas anstellst oder es auch nur so scheint, dann bist du mit einem Schlag raus. Du bist immer auf Bewährung!
Das klingt nach fehlender Bedingungslosigkeit…
Stephan Anpalagan: Nach fehlender Bedingungslosigkeit und nach Entindividualisierung. Trotz tausendfachen Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche kommt niemand auf die Idee zu sagen: Vielleicht sind ja alle Katholiken so? Vielleicht haben die das so im Blut? Oder liegt das in ihrer Kultur? Oder an den patriarchalen Familienverhältnissen? Das wäre doch zurecht ein Affront!
Genau das sind aber die ersten Impulse, wenn sich Migranten daneben benehmen. Die Araber und die Türken – also Menschen aus zig Ländern auf drei Kontinenten, die zwanzig Sprachen sprechen und sich zum Teil spinnefeind sind – sind plötzlich alle gleich. Der türkischstämmige Gemüsehändler und die pakistanischstämmige Kinderärztin müssen sich plötzlich dazu äußern, was im Nahen Osten passiert und was irgendwelche Antisemiten hier in Neukölln bei einer Kundgebung rufen. Einer steht immer für alle.
An der Stelle gibt’s dann übrigens einen entscheidenden Unterschied zu den Ostdeutschen: Du wirst zwar auch als Ostdeutscher schnell für die Aussagen und Taten der Anderen verantwortlich gemacht – aber niemand stellt infrage, dass du ein "echter" Deutscher bist. Niemand sagt: Die müssen wir jetzt alle rausschmeißen.
Das finde ich als Ostdeutscher spannend: Liegt hier nicht ein Schlüssel für gegenseitiges Verstehen? Indem wir die Diskriminierungs-Erfahrung des einen auf den anderen übertragen lernen?
Stephan Anpalagan: Diesen Empathie-Transfer hinzukriegen, wäre eine Sache. Im Buch beschreibe ich das anhand der Geschichte der italienischen und türkischen Gastarbeiter: Die Deutschen begriffen irgendwann, dass die Italiener ja gar nicht alle kriminell sind, wie sie es früher dachten. Dass die Türken es aber vielleicht auch nicht sind, haben sie allerdings nicht hinbekommen.
Mein zweites Anliegen ist, eine andere Klangfarbe in die Debatte reinzubringen, in einer anderen Form zu erzählen: Wenn wir über Migration sprechen, müssen wir eben auch über Heimat sprechen!
Warum du Stephans Buch lesen solltest
Stephan Anpalagan stellt uns Menschen vor, die sagen: "Ich liebe dieses Land so sehr. Aber dieses Land liebt mich nicht zurück." Dabei spannt er einen Bogen von den ersten Gastarbeitern in den Fünfzigern bis zu den Zugehörigkeits-Debatten dieser Tage. Es ist ein hartes Buch, das Doppelmoral anprangert, Scheindebatten entlarvt – und trotzdem, oder gerade deswegen, ein absolutes Lesevergnügen. Hier kannst du ins Buch reinlesen!
Das Motiv Heimat kommt in der Debatte bislang nicht so häufig vor. Von wem wünschst du dir am meisten, dass sie dein Buch lesen und diesen Gedankengang zulassen?
Stephan Anpalagan: An keinem einzigen Punkt in meinem Leben habe ich Zweifel daran gelassen, dass ich Deutscher bin. Ich würde mir aber wünschen – und das sage ich in dieser totalen Pauschalität – dass Deutsche dieses Buch lesen. Menschen, die sich um das Deutsche sorgen. Ich wünsche mir, dass wir einen Diskurs über Heimatliebe führen! Man kann dieses Land lieben, man kann gerne hier sein. Man kann sich damit identifizieren. Man kann sogar – um mal ein anderes Wort zu bemühen, das auf der linken Seite des Spektrums viele Fragen aufwirft – sogar patriotisch sein. Das ist alles möglich.
Im Prinzip führt ihr bei Mein Grundeinkommen ja auch eine Debatte über Heimat: Wer kann hier teilhaben? Wer kann unsere Gesellschaft mitgestalten? Die immergleiche Antwort, dass das nur die reichen, weißen Männer aus dem Sauerland dürfen, ist mir ein bisschen zu wenig.
Dann sind wir zurück bei der sozialen Gerechtigkeit: An welcher Stelle steht sie für dich auf der Liste der Lösungen für eine Heimat für alle, die diesen Namen verdient?
Stephan Anpalagan: Ehrlich gesagt, soziale Gerechtigkeit ist für mich dereine Schlüssel für alles! Wenn du es schaffst, dass dieser Staat als gerechter sozialer Staat funktioniert, nimmst du den Rechtsradikalen das größte Werkzeug, dass sie haben: die Unzufriedenheit der Leute.
Du nimmst den Populisten ihr Werkzeug, gegen "Eliten" und "Lügenpresse" zu hetzen, weil du den Menschen Wirkmacht über ihr eigenes Leben gibst. Sie müssen nicht mehr "Die da oben" verantwortlich machen, sie können ihr Leben selbst verändern.
Auch Rassismus, Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit können wir mit sozialer Gerechtigkeit bekämpfen. Und mit einem nachbarschaftlichen Konzept für mehr zivilgesellschaftliches Engagement. Das gehört alles zusammen, denn du kannst dich nur für deine Gesellschaft einsetzen, wenn du nicht drei Jobs hast, Tag und Nacht schrubben musst und dabei kaputtgehst. Oder aber gar keinen Job hast und daran kaputtgehst, weil du in irgendwelche dunklen Löcher und Lebenskrisen fällst.
Wir alle können sehen, wie sehr unsere Gesellschaft unter Druck steht. Welche Veränderungen braucht es für mehr sozialen Zusammenhalt?
Für uns ist der zentrale Baustein sozialer Gerechtigkeit das Bedingungslose Grundeinkommen. Auf einer Skala von 1 bis 10, von totaler Ablehnung bis totaler Überzeugung, wie stehst du persönlich zu einem Grundeinkommen für alle?
Stephan Anpalagan: Ich glaube, ich bin schon bei einer "8". Es ist ein wichtiges Instrument. Als Unternehmensberater komme ich an Leuten wie Frithjof Bergmann nicht vorbei, der als erster eine neue Form der Arbeit wollte: Wir brauchen ein Drittel Erwerbsarbeit, ein Drittel gesellschaftlicher oder sozialer Arbeit und ein Drittel, mit dem die Leute machen, was sie wollen. Dafür habe ich immer sehr viel Sympathie gehabt.
Der Mensch ist mehr Wert als das, was er verdient. Der Mensch ist auch mehr als sein Beruf. Nicht immer ist ein Beruf auch Berufung. Da spielt das Bedingungslose Grundeinkommen eine ganz wichtige Rolle.
Irgendwie haben wir ja heute schon ein Grundeinkommen – es ist halt nur an Bedingungen und Demütigungen geknüpft. Die könnten wir doch einfach sein lassen und lieber ein ordentliches Steuer- und Finanzierungsmodell bauen und fertig ist die Laube! Ich verstehe, dass die Steuer-Lobby nicht begeistert wäre, wenn man die Dinge so vereinfacht. Aber im Prinzip ist das Bedingungslose Grundeinkommen genau das, was viele Leute dringend fordern: eine Maßnahme zum Bürokratieabbau.
Stephan Anpalagan dreht am Losrad
Bei unserer Oktober-Verlosung saß Stephan Anpalagan als Gast auf dem Verlosungssofa – und verloste selbst 25 Bedingungslose Grundeinkommen.
Falls wir uns in zehn Jahren hier im Heimathafen wieder treffen: Wie sieht Deutschland in Sachen Gerechtigkeit, Miteinander und Heimatgefühl aus, wenn alles gut läuft?
Stephan Anpalagan: Zehn Jahre sind eine sehr kurze Zeit! Aber wenn es gut läuft, dann haben wir bis dahin Folgendes gemacht: Wir haben uns alle zusammengesetzt und festgestellt, dass die Art und Weise, wie wir Politik betreiben, so nicht mehr geht. Diese Verhinderungspolitik, dieses "Den-Leuten-nach-dem-Mund-Reden". Wir haben begriffen, dass wir etwas anderes tun und die Leute davon überzeugen müssen. Das ist schließlich die Aufgabe von politischer Repräsentation.
Wir haben uns auf die Werte der Humanität, der Aufklärung und der freiheitlichen Demokratie zurückbesonnen und eine Antwort auf die Frage "Was ist deutsch?" gefunden. Eine Antwort auf die Frage nach einer Vision, nach einem Fixstern, zu dem wir uns hin orientieren können.
Dann haben wir uns einen Plan gemacht, den möglichst viele Parteien unterstützen und der über Legislaturperioden hinaus wirkt. Und wir arbeiten unabhängig von politischen Punktsiegen daran, diesen Plan umzusetzen. Dasselbe haben wir bis dahin auch in der Wirtschaft getan: Wir haben Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Datenschutz einmal ordentlich implementiert.
Und wir haben jenseits aller Sachfragen eines hinbekommen: Dass wir endlich wissen, was für ein Land wir sein wollen. Wir sind ein kapitalistischer Staat und ich glaube, dass wir nie etwas anderes sein werden. Das heißt: Wir wollen, dass Menschen erfolgreich sein können, wenn sie fleißig und risikobereit sind. Aber wir wollen auch, dass alle die Chance dazu haben. Unabhängig davon, wie sie heißen, wie sie aussehen, und aus welchem Elternhaus sie kommen. Doch auch, wer nicht erfolgreich ist im Leben, darf nicht ins Bodenlose fallen.
Wenn wir das in zehn Jahren geschafft hätten, wäre das ein großer, großer Schritt!
Was denkst du? Hat Stephan Anpalagan Recht mit seiner Analyse unseres Miteinanders? Wo stimmst du ihm zu, was siehst du völlig anders? Schreib es uns in die Kommentare!
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