In der Schweiz entsteht gerade ein Projekt, das auf den ersten Blick vieles mit der Idee des Grundeinkommens gemein hat. In einem entscheidenden Aspekt ist es aber anders. Jannik hat sich das Ganze näher angeschaut.
Irgendwie ist es bezeichnend, dass “Ting” seinen Anfang im letzten Sommer nahm, in dem wir alle alleine zuhause saßen und uns fragten, was die Zukunft bringen würde. Nichts war plötzlich mehr sicher und wir mussten uns schnell an neue Bedingungen gewöhnen. Genau für diese Art von Herausforderungen wollen die Köpfe hinter dem Projekt eine neue Lösung ausprobieren.
Grundsätzlich geht es ihnen darum, die Kraft der Gemeinschaft zu nutzen, um Menschen zu erlauben, einander abzusichern und flexibel und mutig auf unvorhersehbare Entwicklungen reagieren zu können. Nicht ohne Grund ist der Name “Ting” von der historischen, germanischen Volksversammlung abgeleitet. Aber was bedeutet das konkret?
Das Prinzip des “Solidaritätsfonds für individuelle Weiterentwicklung” ist relativ schnell erklärt: Die Mitglieder von “Ting” zahlen alle monatlich ca. 5 Prozent ihres Einkommens auf ein Gemeinschaftskonto ein und qualifizieren sich damit für ein “Community-Grundeinkommen”. Dieses kann bei Bedarf beantragt werden und wird bei positiver Entscheidung maximal sechs Monate lang in Höhe von bis zu 2500 Schweizer Franken ausgezahlt.
So etwa an Angela, die schon immer ein naturpädagogisches Projekt für Kinder mit dem Thema “Permakultur” umsetzen wollte, der es aber an den dafür nötigen finanziellen Mitteln fehlte. Ganz ähnlich wie beim Bedingungslosen Grundeinkommen werden Menschen durch die Reduzierung von finanziellem Druck dazu befähigt, einen anderen Berufsweg einzuschlagen und ihr Leben selbstbestimmter zu gestalten.
Bedingtes Grundeinkommen?
Einen großen Unterschied gibt es aber: Statt einer bedingungslosen Auszahlung ist das “Ting”-Grundeinkommen an Bedingungen geknüpft. So wird das Geld nur für Vorhaben ausgezahlt, die aus eigenem Antrieb motiviert sind, eine nachhaltige Zukunftsvision für die Antragsteller*innen beinhalten und einen sichtbaren Nutzen für die Gesellschaft generieren.
Was auf den ersten Blick bevormundend wirken könnte, dient in Wahrheit nur dem Ausschluss von blankem Hedonismus: Kreuzfahrten oder den Kauf eines Motorrads will “Ting” nicht finanzieren.
Nie mehr verpassen, wenn es etwas Neues zum Bedingungslosen Grundeinkommen gibt!
Die Notwendigkeit neue Ansätze zu erproben, sehen die acht Menschen hinter dem Projekt darin, dass wir in Zeiten des Umbruchs leben. Das bestehende Sozialsystem ist für diese neuen Anforderungen nicht gemacht, glauben sie, und könnte durch zivilgesellschaftliche Programme ergänzt werden. Dabei ist “Ting” eindeutig als Experiment angelegt. Der Prozess wird wissenschaftlich begleitet und die dabei gewonnen Erkenntnisse werden der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. So können sie idealerweise in zukünftige Reformen der Sozialsysteme einfließen.
Bisher scheint sich das Konzept zu bewähren. Das zeigt sich zum einen an der Vielzahl der bisher umgesetzten Vorhaben der Mitglieder, die ein Community-Grundeinkommen bezogen haben – zum anderen darin, dass Mitglieder auch zufrieden sind, wenn sie lediglich Geld einzahlen. So erzählt Miriam, dass allein die Möglichkeit, ihr Leben bei Bedarf neu ausrichten zu können, ihr bereits ein gutes Gefühl gibt.
Die Chance auf eine neue Gesellschaft?
Erfolgsentscheidend sind dabei also vor allem Vertrauen und Solidarität. Ähnlich wie bei der Verlosung von “Mein Grundeinkommen”, zahlen Menschen Geld ein in der Hoffnung, selbst irgendwann profitieren zu können – aber mit der Gewissheit, dass das Geld in jedem Fall etwas Positives bewegt.
Damit ist das Modell von “Ting” eine Abkehr vom Homo Oeconomicus:Der von den Wirtschaftswissenschaften oft beschriebene Archetyp des Menschen als selbstsüchtigem Nutzenmaximierer, der nur etwas tut, wenn er dafür auch etwas zurückbekommt. Im “Ting” ist also auch die Hoffnung auf eine solidarische Gesellschaft angelegt, die sich von ihrem Hyperindividualismus abwendet und über den eigenen Vorteil hinweg denkt.
Aber kann so etwas auch von der breiten Masse angenommen werden? Das “Ting”-Team ist optimistisch. Auch wenn sich bisher erst ca. 100 Mitglieder engagieren, sind sie von der Mehrheitsfähigkeit des Projektes überzeugt. “Auch das Wochenende und die Rentenversicherung waren einmal soziale Utopien. Ich will dabei sein, wenn wir gemeinsam die nächste soziale Utopie Realität werden lassen”, sagt Flurin, einer der Mitgründer*innen.
Sollte die Ausgangshypothese des Projekts zutreffen, und unser Zeitalter weitere Unvorhersehbarkeiten wie die Corona-Pandemie für uns bereithalten, könnte es zumindest zu einer gesellschaftlichen Rückbesinnung auf Werte wie Gemeinschaft und Solidarität kommen. Projekte wie “Ting” könnten in diesem Fall einen flexiblen Möglichkeitsraum für Weiterentwicklung schaffen, wenn die bestehenden Sozialsysteme nicht greifen.