Abstiegsangst statt Vorfreude: Mehr als die Hälfte der Deutschen kann sich Weihnachten nicht mehr so leisten wie sonst. Spätestens jetzt haben wir alle bedingungslose Sicherheit auf dem Wunschzettel, oder?! Volker fragt sich, warum leider das Gegenteil stimmt – und wie wir das ändern können.
Auf den ersten Blick scheint alles wie immer: In den Geschäften quellen die Regale über vor teuren Geschenkideen. Im Fernsehen jagt eine Werbung mit "Black Friday"-Angeboten die nächste. Der vorweihnachtliche Kaufrausch ist wie jedes Jahr in vollem Gange. Oder?!
Die Krise zeigt sich erst auf den zweiten Blick. Aber sie ist da. Man bemerkt sie bei den Menschen, die auf dem Weihnachtsmarkt "heute mal nicht" mittrinken, weil sie sich keinen Glühwein für fünf Euro leisten können. Oder an den Menschen, die im Einkaufszentrum lange vor dem Regal mit dem Kinderspielzeug stehen, aber doch nichts kaufen.
Vor allem zeigt sich die Krise aber bei den Menschen, die wir gar nicht mehr sehen, weder auf dem Weihnachtsmarkt noch im Einkaufszentrum. Die sich ganz zurückziehen aus allen Ritualen der Vorweihnachtszeit, die Geld kosten. Es sind viele, so viele wie noch nie.
Die Scham, über die eigene Existenzangst zu sprechen
Acht von einhundert Menschen werden in Deutschland dieses Jahr ganz darauf verzichten, Geschenke für ihre Liebsten zu kaufen. 43 von einhundert Menschen werden "deutlich weniger" oder zumindest "etwas weniger" Geld für Geschenke ausgeben. Jede*r Fünfte wird dieses Jahr auf einen Weihnachtsbaum verzichten – oder einen kleineren kaufen.
Das ist die bittere vorweihnachtliche Realität: Mehr als die Hälfte der Menschen in unserem Land können sich Weihnachten nicht mehr so leisten wie früher. Nicht einmal jede*r Vierte kann so weitermachen, als wäre nichts.
Die Zahlen stammen aus zwei Umfragen im Oktober und November. Sie sind repräsentativ für uns alle – und trotzdem kann man davon ausgehen, dass tatsächlich noch mehr Menschen im Moment akute Geldsorgen plagen – sie es aber nicht zugeben, wenn Meinungsforscher*innen sie danach fragen.
Denn die Scham, offen über die eigene Existenzangst zu sprechen, begegnet uns bei unserer Arbeit immer wieder. Neu ist, dass diese Scham in der aktuellen Krise sogar zunimmt. Aus zwei Gründen, glaube ich.
Unser Leben ist so teuer wie nie! Bis Weihnachten schauen wir darauf, wie die Krise uns und das Fest belastet – und was ein Grundeinkommen für alle daran ändern könnte.
Der erste Grund ist die würdelose Debatte, die in den letzten Wochen um das Bürgergeld tobte. Alle Menschen, die Hartz IV beziehen, werden in diesen Tagen wieder – zwischen den Zeilen oder ganz unverblümt – als von Natur aus faul abgestempelt. Denen könne man nicht trauen. Die müsse man durch die Drohung mit Sanktionen zur Leistung zwingen.
Der zweite Grund ist, dass plötzlich auch Menschen von den explodierenden Kosten für Essen, Wohnen und Leben betroffen sind, für die Existenzängste ganz neu sind. Zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung breitet sich die Sorge, das alles nicht mehr stemmen zu können, bis tief in eine finanzielle Mittelschicht aus, die mit dem unbekannten Gefühl nicht recht umzugehen weiß.
Für sie war es früher leicht, sich von denen abzugrenzen, die arm waren. Plötzlich sitzt man, zumindest gefühlt, im selben Boot. Aber sich das eingestehen oder sogar öffentlich darüber reden? Lieber nicht.
Die Inflation frisst das Bürgergeld auf
Jetzt ist das Bürgergeld – oder das, was von der Ursprungsidee übrig geblieben ist – beschlossene Sache. Von der Erhöhung des Regelbedarfs um 53 Euro pro alleinstehendem Erwachsenen wird sich niemand Geschenke für die Liebsten leisten können: Sie tritt sowieso erst im Januar in Kraft – und ist bis dahin längst von der Inflation oder der Stromrechnung aufgefressen.
Genauso verheerend ist aber die Botschaft, die die Sozialreform und die zynische Debatte darüber mitten in der Kostenkrise aussenden: "Pass bloß auf, dass du niemals in finanzielle Not gerätst! Wenn doch, bist du vermutlich selbst Schuld. Und das werden wir dich spüren lassen – Inflation hin oder her!"
Für alle, die schon einmal auf Hartz IV angewiesen waren oder sind, ist diese Abwertung nichts Neues. Sie haben in der Debatte – mit wenigen großartigen Ausnahmen – noch immer kaum eine Stimme. Neu ist sie aber für alle, die im Moment zum ersten Mal selbst Angst davor bekommen, vielleicht bald zu den Abgewerteten zu gehören. Die finanzielle Mittelschicht – die durchaus eine Stimme in der Debatte hätte. Verändert das was?
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Leider nein! Wir überwinden die Stigmatisierung von Menschen in Armut nicht einmal jetzt, wenn mehr als die Hälfte der Deutschen sich selbst weniger Weihnachten leisten können, weil sie Geldsorgen haben. Es findet keine Solidarisierung statt, obwohl man doch im selben Boot sitzt – oder bald sitzen könnte.
Stattdessen passiert eher das Gegenteil: verdrängen, ignorieren oder sogar die Stigmatisierung zementieren. Dieselben Mehrheiten, die gerade zum ersten Mal selbst Existenzängste spüren, befürworten in Umfragen das Zurechtstutzen des Existenzminimums Anderer durch Sanktionen. Mir fällt es schwer, mit diesem Wissen in vorweihnachtliche Stimmung zu kommen.
Gerechtigkeitsdebatten unterm Weihnachtsbaum
Einen Hoffnungsschimmer habe ich aber noch: Vielleicht liegt es ja gar nicht an mangelndem Interesse der gesellschaftlichen Mitte an echter sozialer Gerechtigkeit für alle – sondern daran, dass alle politisch diskutierten Vorschläge bisher einfach schlecht waren?
Auch wenn das Bürgergeld gegenüber dem würdelosen Hartz IV-System ein minimaler Fortschritt ist – bei Menschen, die sich in diesen Tagen nur theoretisch ausmalen müssen, wie ihr Leben mit Bürgergeld aussähe, löst es natürlich nach wie vor eher den Reflex aus, sich so weit wie möglich davon abzugrenzen.
Damit sich die passiven Sorgen der breiten Mehrheit jetzt zu einer aktiven Forderung nach einer sozialen Absicherung entwickeln können, die man sich im Fall der Fälle auch für sich selbst vorstellen kann – ohne dabei Scham und Angst vor der Armutsfalle zu empfinden – braucht es andere Lösungen.
Dranbleiben! Mit dem wichtigsten Newsletter zum Grundeinkommen
Stellen wir uns vor, wie anders wir auf die Energie- und Kostenkrise blicken würden, wenn wir alle denselben Anspruch auf eine bedingungslose Grundsicherung hätten, die existenzsichernd und ohne Bedürftigkeitsprüfung daherkäme.
Noch besser: Reden wir über diese Vorstellung! Mit Freund*innen auf dem Weihnachtsmarkt. Bei der Weihnachtsfeier mit Kolleg*innen. Bei der Bescherung vor dem Weihnachtsbaum.
Damit wir auch in Krisenzeiten nie wieder dazusagen müssen: Vorausgesetzt, wir können uns einen Weihnachtsbaum und eine Bescherung leisten...
Wenn du einen Anlass für eine Gerechtigkeitsdebatte an Weihnachten – oder einfach ein sinnvolles Geschenk suchst, probiere unsere Gutscheine aus. Damit verschenkst du ein Jahr lang die Chance auf ein Bedingungsloses Grundeinkommen.