Die Schweiz hätte schon vor sechs Jahren das Grundeinkommen für alle haben können – aber der Mehrheit ging das zu schnell. Jetzt startet in Zürich ein neuer Versuch. Diesmal will man erst Wissen und dann Fakten schaffen. Ein kluger Weg.
Der wohl berühmteste Geldautomat des Landes stand im Sommer letzten Jahres vor dem Reichstag in Berlin, um den Start des Pilotprojekts Grundeinkommen sichtbar zu machen. Er spuckte den ganz Tag lang bedingungslose Geldscheine aus. Bilder davon ging durch sämtliche Zeitungen und schafften es sogar bis in die Tagesschau.
Jetzt steht derselbe Geldautomat plötzlich in der Schweiz herum. Giftgrün umlackiert verteilt er nun statt Geld ein so genanntes "Los fürs Leben" in Zürich, einer der teuersten Städte der Welt. Was steckt dahinter?
Update vom 26. September 2022: Zürich hat sich bei der Volksabstimmung gegen einen wissenschaftlichen Pilotversuch entschieden. 53,9 Prozent stimmten dagegen. Die Ablehnung war deutlich knapper als 2016, damals sagten noch 63,4 Prozent "Nein" zu einem Grundeinkommen für alle in der Schweiz.
"Ganz einfach, wir haben ihn uns von euch geborgt, um auf die Abstimmung am Sonntag aufmerksam zu machen", erzählt Silvan Groher. Er ist Teil des Vereins Grundeinkommen, der die Züricher*innen am 25. September zu den Urnen ruft. Sie können abstimmen, ob ihre Stadt einen wissenschaftlichen Praxistest des Bedingungslosen Grundeinkommens durchführen soll.
Das deutsche Projekt als Vorbild und Impulsgeber
Das schlagen die Initiator*innen vor: Drei Jahre lang sollen etwa 500 Menschen in der Stadt ein monatliches Grundeinkommen von 2.500 bis 3.000 Schweizer Franken erhalten. Das sei der Betrag, der wegen des hohen Preisniveaus in Zürich als existenzsichernd gelte, erklärt Silvan Groher. Forschende von Schweizer Hochschulen sollen herausfinden, wie sich das Grundeinkommen auf den einzelnen Menschen und die Gesellschaft auswirkt. Dazu sollen sie die Effekte bei den Proband*innen mit denen in einer Kontrollgruppe vergleichen, die kein Grundeinkommen erhalten.
Das Pilotprojekt will so Antworten auf die Streitfragen liefern, die auch in der Schweiz im Mittelpunkt der Debatte über das Grundeinkommen stehen: Hilft es, die Schere zwischen Reich und Arm zu schliessen? Ist es eine Antwort auf die Digitalisierung und Automatisierung? Fördert es Selbstverantwortung, ökologisches Bewusstsein und damit das Gemeinwohl? Oder macht es nur faul?
Der Aufbau und die Forschungsfragen des Praxistests kommen uns bekannt vor. Nicht ohne Grund, wie Silvan Groher sagt: "Das deutsche Pilotprojekt Grundeinkommen war Vorbild und Impulsgeber. Wir waren ja in all den Jahren immer in sehr engem Austausch miteinander, was Inspiration und Mut geschenkt hat." Größter Unterschied der beiden Projekte: Die Schweizer wollen erreichen, dass die Stadt Zürich ihr Pilotprojekt aus eigenen Mitteln bezahlt – das deutsche Pilotprojekt Grundeinkommen wird zu einhundert Prozent aus der Zivilgesellschaft finanziert.
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Rund 15-20 Millionen Franken würde das Pilotprojekt kosten, schätzen die Initiator*innen. Ist es so viel öffentliches Geld wert? "Wird diese Initiative angenommen, so würde sich das meiner Meinung nach bezüglich Relevanz in die amerikanischen Forschungsprojekte der Sechziger- und Siebzigerjahre einreihen", sagt Groher. "Die Legitimation, dass eine städtische Verwaltung einer Universität den Forschungsauftrag erteilt, das Grundeinkommen repräsentativ zu erforschen, wäre definitiv legendär."
Die Schweiz braucht dringend belastbares Wissen, wie ein Grundeinkommen für alle wirken würde, um die Debatte voranzubringen. Vor sechs Jahren stimmten die Eidgenossen*innen über die Einführung in der ganzen Schweiz ab. Mehr als drei Viertel lehnten das damals ab – auch weil sie noch zu viele offene Fragen zu Kosten und Wirkung hatten.
Jetzt nutzen die Initiator*innen vom Verein Grundeinkommen die Mittel der direkten Demokratie in der Schweiz erneut, um mit dem Praxistest diese Wissenslücken zu schließen. Silvan Groher ist zuversichtlich, dass das klappt: "Wenn man sich auf der Straße umhört, scheint die Akzeptanz für einen wissenschaftlich begleiteten Pilotversuch weit höher zu sein als die Einführung. Wer auf nationaler Ebene also gegen ein Grundeinkommen war, scheint nicht zwingend gegen einen Pilotversuch zu sein."
Aber ausgerechnet in Zürich? Einer Stadt, die laut dem aktuellen Ranking des Wirtschaftsmagazins The Economistdie viertteuerste Stadt der Welt ist? Für die Initiator*innen ist das kein Widerspruch: "Warum Zürich? Weil es einen ziemlich hohen Anteil an sozial marginalisierten Menschen hat, weil es eine starke linke Mehrheit hat und weil sich Zürich das leisten kann."
Die Widerstände der Politik sind auf der kommunalen Ebene aber nicht geringer als vor sechs Jahren auf der nationalen: Stadtrat und Gemeinderat lehnen die Initiative mit großer Mehrheit ab. Aber die Fraktionen im Gemeinderat, die wie vor jeder Volksabstimmung eine "Parole", also ihre Haltung zur Abstimmung, verkünden, spiegeln die ganze Zerrissenheit der Debatte wider: Die großen linken Parteien SP, Grüne und die Alternative Liste haben die "Ja"-Parole ausgegeben. Die liberalen bis rechtskonservativen Parteien SVP, FDP und EVP sagen "Nein" und dazwischen finden sind sich Die Mitte und die Grünliberalen. "Damit hat die Initiative tatsächlich eine reale Chance, angenommen zu werden", analysiert Silvan Groher.
Damit die Initiative auf den letzten Metern vor dem Wahltag möglichst viel Aufmerksamkeit erhält, hat sie sich die "Lose fürs Leben" ausgedacht. Der aus Berlin geborgte Geldautomat stand in den letzten Wochen auf vielen wichtigen Plätzen in Zürich – und spuckte Rubbellose aus. Zu gewinnen gab es Grundeinkommen für einen Tag, für eine Woche oder für einen ganzen Monat, finanziert aus Spenden.
Zum Auftakt am Paradeplatz – dem "teuersten Fleck der Erde", wie Silvan Groher ihn nennt – kamen mehr als 700 Menschen und standen Schlange, um per Knopfdruck eines der Lose aus dem Geldautomaten zu ziehen. "Die Tram-Glocke bimmelte an und an, weil die Leute zu nahe am Tramgleis standen", erinnert sich Groher. "Dieser Moment, in dem alles funktionierte und zusammenkam, war der schönste und spannendste Moment seit langem."
"Feiern, bis ihr es in Deutschland hört"
Ob die Aktionen genug Menschen in Zürich davon überzeugen, für das Pilotprojekt zu stimmen, zeigt sich am Sonntag. So oder so hat der Verein Grundeinkommen seinem Anliegen aber bereits neuen Aufwind gegeben: "Wir sind klar der Meinung: Viele Versuche für die Zukunft sind besser als hilflose Stagnation."
Falls Zürich am Sonntag tatsächlich "Ja" zum Pilotprojekt sagt, müsste die Stadt im nächsten Schritt per Ausschreibung Forschende finden, die den Versuch nach wissenschaftlichen Kriterien aufbauen und durchführen. Bis das passiert, könnte es aber noch etwas dauern, glauben die Initiator*innen, da "die Stadtregierung ja leider grundsätzlich dagegen ist und die politischen Mühlen langsam mahlen."
Die Freude über einen Erfolg bei der Abstimmung kann die Aussicht auf eine lange Umsetzungsphase nicht trüben, sagt Silvan Groher mit einem Augenzwinkern: "Wenn das klappt, dann feiern wir erstmal, bis ihr es in Deutschland hört!"
Was denkst du? Wird Zürich am Sonntag für das wissenschaftliche Pilotprojekt stimmen? Kann die aktuelle Debatte in der Schweiz uns in Deutschland auf dem Weg zu einem Grundeinkommen für alle helfen? Schreib es uns in die Kommentare!
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