Die letzten Landtagswahlen zeigen es: In Krisenzeiten greifen viele auf vermeintlich einfache Lösungen zurück, die Sicherheit und Stabilität vorgaukeln. Dabei helfen nur mutige, zukunftsweisende Ansätze aus der Krise. Warum das so ist – und wie nachhaltige Lösungen aus Courage und Weitsicht entstehen.
Es hätte alles so schön werden können am anderen Ende der Welt: Angeführt von der damaligen Premierministerin Jacinda Ardern machte sich Neuseeland 2019 auf den Weg in eine klimafreundliche und gesündere Zukunft. Die sogenannte "Zero Carbon Bill", zu Deutsch etwa das "Null-Kohlenstoff-Gesetz", setzte ambitionierte Ziele für die Reduktion von Treibhausgasen.
Drei Jahre später kündigte die Regierung zudem die bedeutendsten Klimaschutzmaßnahmen in der Geschichte des Landes an: 4,5 Milliarden US-Dollar für einen Klima-Notfallfonds, um eine emissionsarme Wirtschaft voranzutreiben und das Land auf die Auswirkungen des Klimakollapses vorzubereiten.
Neben dem Kampf gegen den Klimawandel brachte Arderns Regierung auch fortschrittliche – und in ihrer Art einzigartige – Maßnahmen im Kampf gegen Big Tobacco auf den Weg. Ihr Anti-Tabak-Gesetz sah unter anderem ein lebenslanges Rauchverbot für Jugendliche vor, die nach einem bestimmten Stichtag geboren wurden.
Statt die ambitionierten Klima- und Gesundheitsziele weiterzuverfolgen, stehen nun wieder Steuersenkungen und Investitionen in traditionelle Wirtschaftssektoren an erster Stelle. In einer Zeit, in der Neuseelands Gletscher dahinschmelzen und Zyklone Menschenleben fordern, ist das eine Strategie, die nicht gerade nachhaltig erscheint.
Bist du extrem mutig?
Gerade jetzt braucht es mutige Ideen statt Populismus. Lasst uns lieber an morgen als an gestern denken. Für die nächste Generation. Für uns alle.
Aber wie so oft muss man gar nicht in die Ferne schweifen, um solche Entwicklungen beobachten zu können: Auch hierzulande und in unseren Nachbarstaaten haben es fortschrittliche Ideen zunehmend schwerer – zeigen doch die Wahlen in Thüringen, Sachsen und davor in Europa, dass Klimapolitik auf der Prioritätenliste weiter nach unten gerutscht ist. Unter anderem auch angesichts des wachsenden Sicherheitsbedürfnisses der Wähler*innen.
Denn der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt – und mit ihm die Inflation. Vor dem Krieg freilich hatten wir bereits mit der COVID-19 Pandemie zu kämpfen. Die uns auch einmal mehr daran erinnerte, wie ungleich Ressourcen doch eigentlich verteilt sind in unserer heilen-gar-nicht-so-heilen Welt.
Berücksichtigt man dann noch die eine oder andere Jahrhundertflut, dann war das rückblickend doch alles ganz schön viel. Da ist es dann auch nicht großartig verwunderlich, dass die Gesellschaft erschöpft scheint. Entmutigt. Misstrauisch.
Welche Brücken führen über gesellschaftliche Gräben?
Es war dann aber trotzdem ein Schock, als vergangenes Jahr die Mitte-Studie 2022/23 der Friedrich-Ebert-Stiftung zu dem Schluss kam, dass inzwischen 8% der Deutschen rechtsextreme Weltbilder teilen – und 6% sogar mit einer Diktatur ganz gut leben könnten (mit einer einzigen starken Partei und einem Führer…).
Im Juni 2024 erklärten schließlich 82% der AFD-Anhänger*innen, es sei ihnen egal, dass die Partei „in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht“. Schreck lass nach, was ist da los?
Einfach? Gut! Populismus als Antwort auf Krisen
Weltoffenheit und fortschrittliche Ideen, so scheint es, haben in extremen Zeiten nicht gerade Hochkonjunktur. Sie zielen darauf ab, gesellschaftliche Strukturen zu verändern, um mehr Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit oder soziale Teilhabe zu erreichen. Beispiele wären Klimaschutz, Geschlechtergerechtigkeit, Antirassismus oder – es lag dir vielleicht schon auf der Zunge – das Bedingungslose Grundeinkommen.
Extreme Zeiten aber, also zum Beispiel während wirtschaftlicher Krisen, in Momenten politischer Instabilität oder krasser sozialer Ungleichheit, nach Umweltkatastrophen oder Pandemien, lösen bei uns Menschen Angst und Unsicherheit aus. Was wiederum konservative und populistische Bewegungen stärkt – und diese bis in die Mitte der Gesellschaft hineinwachsen lässt.
Denn Krisenzeiten sind oftmals aus sich selbst heraus sehr vielschichtig und emotional herausfordernd. Und das führt wiederum zu einer Sehnsucht nach einfachen, vermeintlich sachlich-neutralen Antworten. Klingt erstmal logisch.
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Progressive, also fortschrittliche Ansätze dagegen sind oft genauso vielschichtig und erfordern dazu noch langfristiges Denken. Wir sollen also in einem Moment an eine (womöglich auch noch ferne) Zukunft denken, in dem uns die Gegenwart schon reichlich zu schaffen macht. Das ist zugegebenermaßen nicht ganz intuitiv, so mitten im Krisenmodus. Einfache, womöglich schon bekannte Lösungen sind da leichter zu verstehen und anzuwenden, was in stressigen Zeiten entlastend wirkt.
Zumal wir ja logischerweise weniger Kapazitäten für andere hochkomplexe Gedankengänge haben, wenn eine Sache (auch eine schöne) unser Denken gänzlich in Beschlag nimmt. Was richtet dann erst eine Krise an, im Kopf und auf energetischer Ebene? Oder, Schockschwerenot: viele Krisen gleichzeitig?
Jegliche Knappheit vereinnahmt das Denken: "Wer wenig Geld hat, muss sich viel mit Geld beschäftigen – und hat dadurch weniger Kapazitäten für anderes (...) Wer dauernd über eine Pandemie nachdenkt und jegliche Entscheidungen daran ausrichten muss, ist in anderen Lebensbereichen angestrengter und weniger leistungsfähig", fasst die Journalistin Sarah Emminghaus Kernaussagen von Psycholog*innen und Ökonom*innen zu Denkmustern in der Krise zusammen.
Früher war alles besser: Traditionelle Werte in extremen Zeiten
Denn, Überraschung: In Krisenzeiten sehnen Menschen sich vermehrt nach Sicherheit und Stabilität. Traditionelle Werte bieten ein Gefühl von Vertrautheit, Beständigkeit und Berechenbarkeit in einer ansonsten chaotischen Welt. In anderen Worten, sie bieten eine Fluchtmöglichkeit aus der aktuellen Unsicherheit. Veränderungen können dagegen als zusätzliche Bedrohung empfunden werden.
Die nostalgische Rückbesinnung auf Altbekanntes mag aber zum Teil auch dem geschuldet sein, dass die Gesellschaft auf der Suche nach ihrer kulturellen Identität ist. Die Journalistin und Autorin Alice Hasters bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt:
Angst ist kein guter Berater: Darum sind mutige Ideen in Krisen umso wichtiger
Aber, ach. Wenn es doch so einfach wäre. Die Realität zeigt: Viele Krisen sind das Ergebnis systemischer Probleme, die (leider) nur durch tiefgreifende Veränderungen gelöst werden können. Es braucht langfristige Lösungen, die nachhaltig und auch gerechter sind. Gesellschaften mit fortschrittlichen Ansätzen sind auf lange Sicht also schlicht widerstandsfähiger und anpassungsfähiger gegenüber zukünftigen Herausforderungen.
Denn wenn uns die Corona-Pandemie eines gelehrt hat, dann doch sicherlich dieses: In Krisenzeiten ist es ganz besonders wichtig, soziale Gerechtigkeit und Teilhabe zu fördern. Nämlich ganz einfach, um gesellschaftliche Spaltung zu verhindern.
Ein interessantes Beispiel für ein Land, das in einer Krise sehr erfolgreich eine bislang einzigartige und zukunftsweisende Maßnahme ergriffen hat, ist Portugal. Während der 1980er und 90er Jahre erlebte das südeuropäische Land eine Drogenkrise – und entkriminalisierte in der Folge 2001 den Besitz und Konsum aller Drogen. Statt Konsument*innen zu bestrafen, wurden sie zu Drogenberatungsstellen geschickt.
Klingt verrückt? Ist es aber nicht. Die Maßnahme führte zu einem Rückgang von Drogenabhängigkeit und Überdosierungen sowie zu einer Verbesserung der öffentlichen Gesundheit. Portugal wird inzwischen von vielen Expert*innen als Modell für erfolgreiche Drogenpolitik angesehen.
Das portugiesische Beispiel zeigt: Es kann sehr lohnenswert sein, den unbekannten, neuartigen – und manchmal auch einschüchternden – Weg zu gehen. Auch, wenn wir gerade mitten in einer Krise stecken. Nein: vor allem, wenn wir gerade mitten in einer Krise stecken.
In Zeiten, in denen die Welt nach Atem ringt, bieten mutige, nach vorn gewandte Ideen dringend benötigten frischen Wind. Sie sind der Schlüssel, um nicht nur die aktuellen Krisen mit Bravour zu meistern, sondern auch zukünftigen Herausforderungen besser gewachsen zu sein.
Was glaubst du? Was braucht es jetzt, damit unsere Gesellschaft für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet ist? Schreib uns deine Meinung in die Kommentare!
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