"Ein Grundeinkommen für alle brauchen wir gar nicht – wir haben doch schon die Grundsicherung!" Wer das glaubt, war offensichtlich noch nie selbst darauf angewiesen. Dabei kann es uns jederzeit treffen, von der Kindheit bis zur Rente. Wir klären auf, wie viel Sicherheit wirklich in der Grundsicherung steckt.
Erst letzte Woche hatte ich wieder eine dieser typischen Unterhaltungen mit einem Freund. Er behauptet: "Mit dem neuen Bürgergeld sind doch alle gut abgesichert, die das brauchen. Trotzdem erforscht ihr weiter dieses Grundeinkommen. Das ist doch jetzt überflüssig!"
Ich seufze in mich hinein, aber lasse mir nichts anmerken. Sondern erzähle ihm geduldig, warum sich die Grundsicherung, die wir heute haben, und das Grundeinkommen, das wir gerne hätten, nur im Namen ähneln.
Um es klar zu sagen: Nicht die Fragen oder Zweifel an der Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens nerven mich. Im Gegenteil. Wir probieren und erforschen es ja gerade deswegen, um Antworten für die Zukunft zu finden. Was mich aber nervt, ist die Unwissenheit darüber, wie lückenhaft das Sozialsystem der Gegenwart uns tatsächlich absichert. Denn diese Unwissenheit entsteht zu oft aus purem Desinteresse. Nach dem Motto: "Ich muss das nicht wissen, mir kann das eh nie passieren!"
In jedem Alter und jeder Lebensphase könnten wir plötzlich darauf angewiesen sein, dass dieses Sicherheitsnetz uns auffängt. Aber das tut es nicht. Jedenfalls nicht ohne große, klaffende Löcher.
"Das kann ja jeder behaupten", warf mir der Freund an dieser Stelle entgegen. Und da hat er natürlich Recht. Was ihn dann aber doch überzeugt hat, waren die ganz realen Erfahrungen unserer Gewinner*innen, die als einzige Menschen beides kennen und miteinander vergleichen können: die Grundsicherung und das Bedingungslose Grundeinkommen.
Lassen wir also am Besten sie selbst sprechen...
"Wir werden finanziell echt am Minimum sein"
Kristin (63) arbeitet auch als Rentnerin weiter
Auf ihrem Sofa in Berlin erzählt uns Kristin, die von ihrer Familie liebevoll Kiki genannt wird, aus ihrem Berufsleben und ihrer Rente. Als Näherin macht sie sich früh selbstständig, ist erfolgreich als Inneneinrichterin und Aufräumberaterin. "Jahrzehntelang selbstständig sein, da kommt nicht viel zusammen. Wir werden finanziell echt am Minimum sein", rechnet Kristin mit Blick auf ihre Rente vor: Sie selbst hat nur 250 Euro Rentenanspruch, die Rente ihres Partners Christian kann das nicht ausgleichen.
"Ich bin ein sehr freiheitsliebender Mensch, bin nicht umsonst ein Leben lang selbstständig gewesen – aber die finanziellen Zwänge sind manchmal sehr belastend." So geht es rund 1,1 Millionen Menschen in Deutschland, deren Alters- oder Erwerbsminderungsrenten so gering ausfallen, dass sie durch Grundsicherung aufstocken müssen.
Kristin hat einen anderen Weg gewählt. Sie arbeitet weiter selbstständig, soweit es ihre Gesundheit zulässt: "Ich habe irgendwann festgestellt, mein Körper macht nicht mehr mit." Aber wie lange kann das gutgehen? Kristin bemüht sich immer um einen positiven Blick in die Zukunft: "Ich versuche, mir keine Sorgen zu machen. Manchmal mache ich mir die, klar."
Im April letzten Jahres wird Kristins Leben für ein Jahr etwas sorgenfreier: Sie gewinnt das Bedingungslose Grundeinkommen für ein Jahr. Was haben die 1.000 Euro pro Monat verändert? "Dass man nicht auf jeden Cent gucken und alles genau ausrechnen muss, wie wir es Jahrzehnte lang gemacht haben", antwortet die Berlinerin und lächelt.
Aber zum Einen verstecken sich hinter diesen Werten die Schicksale all derer, die sich aus Scham gar nicht erst trauen, Grundsicherung zu beantragen – so wie es auch Kristin bisher nicht getan hat. Zum Anderen dürften diese Werte steigen, sobald wir alle mit unseren immer weniger geradlinigen und lückenlosen Erwerbs-Biografien den finalen Rentenbescheid öffnen.
Nur eine bedingungslose Grundsicherung in einer Höhe, die wirkliche Existenzsicherheit schafft, nimmt diesem Moment seinen Schrecken. Ein Jahr lang konnte Kristin jeden Monat durchatmen – und sogar etwas zurücklegen für die Zeit, "wo es wieder knapp wird". Niemand, der trotz Rente weiterarbeiten oder aufstocken muss, kennt dieses Gefühl von Sicherheit.
"Ich habe Mitgefühl mit allen Menschen, bei denen ein Kind mit einem drohenden Abrutschen in ein Abhängigkeitssystem einhergeht"
Sarahs (41) Elterngeld allein hätte nie gereicht
"In dem Monat, in dem ich mein erstes Grundeinkommen erhalten habe, bin ich schwanger geworden", erzählt uns Sarah. Sie lebt ebenfalls in Berlin, aber in einer ganz anderen Lebensphase als Kristin. Die 41-Jährige arbeitet damals in Teilzeit an einem Bauprojekt. Ihr Job macht ihr Spaß, ist aber auch mit viel Druck und Verantwortung verbunden.
Nebenbei betreibt Sarah mit einer Freundin auch noch ein kleines Unternehmen. Gemeinsam kuratieren sie Ausstellungen für Museen. "Ich habe in den letzten Jahren extrem viel gearbeitet, ohne dafür besonders viel Geld zu verdienen", fasst sie selbst zusammen.
Als Mutter bekommt Sarah plötzlich die Löcher im sozialen Sicherheitsnetz zu spüren: "Es ist total fantastisch, dass es so was wie das Elterngeld gibt. Aber wenn man eine Teilzeitstelle hat und von dem Gehalt nur 65 Prozent erhält, dann ist das nicht üppig. Wenn man eigentlich super viel arbeitet und dann trotzdem in die Lage kommt, dass man jemanden um Geld bitten muss – mir ist das super unangenehm!"
Nur ihre Auswahl für das Pilotprojekt Grundeinkommen verhindert, dass es für Sarah und ihre kleine Tochter so eng wird. "Es ist ein wahnsinniges Privileg, dass ich mir um all diese Dinge jetzt erstmal keine Gedanken machen muss. Das erste Mal, dass ich mir dann etwas Großes gekauft habe, war eine gebrauchte Waschmaschine. Mit Baby geht es nicht mehr ohne."
Trotzdem kann sich die Berlinerin gut in die Lage der Menschen versetzen, die dieses Privileg nicht haben. Schließlich wird auch Sarahs monatliches Grundeinkommen von 1.200 Euro nach drei Jahren auslaufen: "Ich habe Mitgefühl mit allen Menschen, bei denen das Ereignis, ein Kind zu bekommen, einhergeht mit einem drohenden Abrutschen in ein Abhängigkeitssystem. Mir war es immer wichtig, unabhängig zu sein. Sowohl vom Staat als auch vom Partner."
Wir könnten das sofort ändern. Pläne der Bundesregierung für eine neue Kindergrundsicherung deuten ein zaghaftes Umdenken an: So könnte mehr Unterstützung als bisher vom Einkommen der Eltern entkoppelt – oder sogar die absurde Bevorteilung einkommensstarker Eltern beim Kinderfreibetrag abgeschafft werden. Aber noch wird über die Finanzierung gestritten. Für den Kampf gegen Kinderarmut würden offenbar "wieder nur die Krümel vom Kuchen übrig bleiben", sagt Heinz Hilgers vom Kinderschutzbund dazu.
Sarah aus Berlin kann sich dank des Grundeinkommens aus dem Pilotprojekt schon jetzt quasi bedingungslos um ihre Tochter kümmern. Aber in knapp einem Jahr endet das Projekt – und damit vorerst auch das Gefühl engmaschiger Sicherheit für Sarah und ihr Kind.
Zwischenruf: Was würde die neue Kindergrundsicherung ändern?
Die Kindergrundsicherung soll das Kindergeld, den Bürgergeld-Regelsatz für Kinder, den Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag und Leistungen aus dem sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket bündeln. Die Familienministerin Lisa Paus (Die Grünen) hofft, dass die Leistungen im Paket mehr Kinder erreichen, weil bisher viele Eltern die einzelnen Leistungen wegen Unkenntnis oder hoher bürokratischer Hürden gar nicht erst beantragen.
In der Diskussion ist auch ein Garantiebetrag in Höhe des Kindergeldes, der unabhängig vom Einkommen der Eltern bleibt – und ein neuer Zusatzbetrag, der besonders die Kinder ärmerer Eltern unterstützt. Bisher werden eher Kinder einkommensstarker Eltern durch den Kinderfreibetrag bevorteilt.
Die Kindergrundsicherung wird vermutlich etwa 12 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Sie steht seit 2021 im Koalitionsvertrag und könnte 2025 starten – wenn Finanzminister Christian Lindner (FDP) die Finanzierung nicht länger blockiert. Aktuell will er nur zwei Milliarden Euro im Haushalt für 2025 bewilligen.
"Das Grundeinkommen hat dazu geführt, dass ich mich endlich auf mein Studium konzentrieren kann"
Alexander (26) lässt sich nicht mehr ausbeuten
Unser dritter Gewinner Alexander zeigt, dass man weder Kind noch Rentnerin, weder Selbstständige noch chronisch Kranker sein muss, um zu erleben, welchen Unterschied echte Sicherheit im eigenen Leben machen kann.
Der heute 26-Jährige war zehn Jahre lang im Einzelhandel angestellt, hat zwischendurch ein freiwilliges soziales Jahr geleistet – und auch deswegen etwas später als der Durchschnitt ein Studium begonnen. Die Konsequenz: "Du wirst dafür bestraft, wenn du etwas später anfängst zu studieren." Im Gegensatz zu den meisten seiner Kommiliton*innen hat Alex weder Anspruch auf Unterhalt noch auf Kindergeld. "Das Leben wird teurer, weil du älter wirst."
Sein Nebenjob im Supermarkt kann die finanzielle Lücke nicht füllen. Dabei ist die Arbeit hart, besonders in der Coronazeit. Alex erinnert sich: "Es wurde immer mehr Arbeit bei derselben Bezahlung. Die Leute waren genervt, körperlich und seelisch am Ende. Da wurde in der Pandemie unfassbar viel Geld gemacht. Aber es wurde nichts weitergegeben. Gar nichts."
Unter normalen Umständen hätte Alex wenig Spielraum gehabt, etwas an seiner verfahrenen Situation zu ändern. Erst als er im Mai 2022 sein Grundeinkommen gewinnt, kann er mit einer neuen Sicherheit auf seine Pläne und seine Prioritäten schauen: "Im September hatte ich mein Zehnjähriges im Einzelhandel. Und habe gesagt: Weißte was, hier mache ich jetzt einen Strich drunter."
Alex kündigt im Supermarkt. "Meine Kollegen haben gefragt: Kannst du dir das leisten? Und ich habe gesagt: nein, ich kann mir das absolut gar nicht leisten zu kündigen – aber ich kann es mir auch nicht mehr leisten, hier zu bleiben. Dann wurde es sehr kritisch, was Geld angeht. Aber ich wollte mich nicht mehr ausbeuten lassen."
Das Jahr mit Grundeinkommen hat dem Kölner nicht zu großen Sprüngen verholfen – aber es hat dazu geführt, dass er sich jetzt auf sein Biologie-Studium konzentrieren kann. Das Sicherheitsnetz ermöglicht keinen Luxus, das soll es auch nicht. Außer dem einen: "Ich habe den Luxus zu sagen: Nee, den Job mit diesen Arbeitsbedingungen nehme ich jetzt nicht an!"
Dranbleiben! Mit dem wichtigsten Newsletter zum Grundeinkommen
Hören wir auf zu verdrängen – und fangen wir an zu flicken
Für Kristins, Sarahs oder Alexanders Lebensläufe ist selten Platz in den Debatten über unsere soziale Sicherung. Weder im Parlament, noch in Talkshows oder am Stammtisch. Dabei sollten wir ihnen – und den Millionen anderen, die noch viel tiefer durch die Löcher im Sicherheitsnetz gefallen sind – unbedingt zuhören. Weil wir nur so aufhören werden, diese Löcher zu verdrängen und endlich anfangen, sie zu flicken.
Willst du mehr wissen? In unserem Schwerpunkt Grundsicherung finden wir heraus, was unsere Psyche eigentlich bräuchte, um sich sicher zu fühlen. Wir vergleichen die Wirkungen der Grundsicherung und eines Bedingungslosen Grundeinkommens für alle. Und die Satirikerin Helene Bockhorst macht klar, warum sich das Bürgergeld für seine Empfänger*innen wie ein Picknick in der Hölle anfühlt.
Was denkst du? Hast du selbst erlebt, wie es ist, auf Grundsicherung angewiesen zu sein? Und wenn nicht: Was löst bei dir der Gedanke aus, dass es jede*n irgendwann treffen kann? Schreib es uns in die Kommentare!